Nachtjaeger
weibliche Stimme neben Leander. Es folgte ein theatralisches Seufzen und dann das Geräusch von Lederstiefeln auf heißem Asphalt. Ohne hinzuschauen wusste Leander, dass es sich bei den Stiefeln um italienische Designerware handelte und sie absurd teuer gewesen sein mussten. »Das soll sie sein? Diese schlappe Tussi? Dieses Schneewittchen ohne Rückgrat?«
»Morgan«, mahnte Christian leise. Leander brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass ihr Christian einen warnenden Blick hinter seinem Rücken zuwarf. Er gestattete sich ein kurzes Lächeln.
Als Alpha genoss Leander nicht nur den höchsten Rang und den dazugehörigen Status in seiner Kolonie, sondern man zollte ihm auch für seine sehr seltenen, stark ausgeprägten Gaben Respekt – Gaben, die die Frau, der nun von einem riesigen, schwitzenden Gorilla von einem Mann aufgeholfen wurde, möglicherweise ebenfalls besaß.
Was sie allerdings nicht wusste. Noch nicht.
Sie waren hier, um herauszufinden, ob sie solche Gaben besaß. Wenn sie es tat, würde man sie nach Sommerley bringen, wo sie ihren Platz in der Kolonie einnehmen sollte. Wenn nicht …
Leander wollte sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie keine Anzeichen der Gaben zeigte. Nicht, nachdem er sie gespürt hatte – nachdem er sie gesehen hatte.
Obwohl sie alle schön waren – selbst der am wenigsten Begabte unter ihnen –, spielte Jenna doch in einer ganz anderen Liga. Eine exotische Nymphe voller Eleganz, Kraft und Glanz, ganz und gar weibliche Kurven, schimmernde Haut und ein Übermaß an Kraft. Er ahnte die schlummernde Energie in ihr, als ob sie mit einer Hand über seine Haut streichen würde, obwohl sie sich viele Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite des Parkplatzes befand.
»Und jetzt?«, fragte Morgan in einem etwas zivilisierteren Ton. Dennoch konnte er ihre Irritation wie eine wütende Biene unter seiner Haut spüren.
Widerstrebend wandte Leander den Blick von dem Mädchen ab und sah in Morgans ungeduldige Augen. Sie trug ein derart enges Outfit, dass ihre Figur wie von einer zweiten Haut umhüllt war. Genau diesen Effekt wollte sie auch erzielen. Das wusste er.
Wenn sie eines wollte, dann provozieren.
»Jetzt warten wir«, erwiderte Leander gelassen. »Es ist nur noch eine Woche. Jetzt, da wir sie gefunden haben, lassen wir uns Zeit. Und warten.«
»Und was sollen wir währenddessen tun?«, entgegnete Morgan, die Hand in ihre schlanke, in Leder gekleidete Hüfte gestemmt. »Als ihre Babysitterin fungieren? Sicherstellen, dass sie nicht hinfällt und sich den Kopf anschlägt? Sie scheint leicht das Bewusstsein zu verlieren.«
Morgan warf einen verärgerten Blick durch die Supermarkttüren, wo sich ein halbes Dutzend Männer um die inzwischen wieder aufrecht stehende Jenna versammelt hatte. Mehrere Leute eilten an den Türen vorbei in einen Bereich des Supermarkts, den sie nicht sehen konnten. Vielleicht hatte das etwas mit dem Geräusch von kreischendem Metall zu tun, das sie wenige Minuten zuvor gehört hatten, ehe das Mädchen am Ausgang erschienen war.
»Wir gehen ins Hotel zurück und entspannen uns. Nachdem ich jetzt ihren Geruch kenne, kann ich sie jederzeit orten. In einer Woche haben wir die Antwort.«
Morgan blies eine glänzende schwarze Locke aus ihrer Stirn und warf ihm einen Blick aus ihren kalten, smaragdgrünen Augen zu.
Leander wandte sich ab. Er hatte keine Lust zu streiten. Er hatte auch keine Lust zu reden.
Er wollte nur sie beobachten.
Als ihn der Rat zu dieser Erkundungsmission gedrängt hatte, war Leander nicht sonderlich erfreut gewesen. Er hatte die Wichtigkeit dieser Mission nicht verstanden und gedacht, dass es töricht sei, Zeit und Energie auf etwas zu verschwenden, das sich nicht lohnte.
Gerade in letzter Zeit hatte es wichtigere Dinge in der Kolonie gegeben, um die man sich kümmern musste.
»Wieso ist sie für uns interessant?«, hatte er gefragt, als er zwischen den sechzehn Männern und der einen Frau des Rats gestanden hatte – die Zähne zusammengebissen und die Finger weit gespreizt.
Die Ostbibliothek, wo der Rat regelmäßig tagte, war von goldenem Sonnenlicht erfüllt, das sich in den Kristallen des Kronleuchters über ihren Köpfen brach. Der Raum hatte eine prachtvolle vergoldete Decke, einen Marmorkamin aus dem siebzehnten Jahrhundert sowie einen atemberaubenden Blick auf den Fluss Avon, der sich durch den New Forest dahinter schlängelte. Gewöhnlich war die Ostbibliothek Leanders Lieblingsort in
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