Naechtliches Schweigen
1.
London, 1967
Emma war fast drei Jahre alt, als sie ihren Vater zum erstenmal traf. Sie wusste, wie er aussah, da ihre Mutter jede verfügbare Fläche der vollgestopften Dreizimmerwohnung mit sorgfältig aus Zeitschriften und Fanmagazinen ausgeschnittenen Fotos bedeckt hatte. Jane Palmer pflegte ihre Tochter von Foto zu Foto an der stockfleckigen Wand zu tragen und sich dann mit ihr auf dem staubigen, zerschlissenen Sofa niederzulassen, um ihr von der wundervollen Liebesbeziehung zwischen ihr und Brian McAvoy, dem Leadsänger der bekannten Rockgruppe Devastation, zu erzählen. Je mehr Jane trank, desto stärker verherrlichte sie diese Liebe.
Emma verstand nur Bruchstücke von dem, was man ihr erzählte. Sie wusste, dass der Mann auf den Fotos bedeutend war; dass er und seine Band sogar vor der Königin aufgetreten waren. Sie hatte gelernt, seine Stimme zu erkennen, wenn seine Songs im Radio gespielt wurden oder ihre Mutter eine der Platten aus ihrer Sammlung auflegte.
Emma mochte seine Stimme und das, was sie später als leichten irischen Akzent erkannte.
Einige Nachbarn redeten voll Mitleid über das arme kleine Ding von oben, deren Mutter eine Vorliebe für Gin und ein gefährliches Temperament hatte, weil man von Zeit zu Zeit Janes schrille Verwünschungen und Emmas verzweifeltes Schluchzen hören konnte. Dann kräuselten sich die Lippen der Frauen, und sie warfen einander wissende Blicke zu, während sie ihre Teppiche ausklopften oder die wöchentliche Wäsche aufhingen.
Zu Beginn des Sommers des Jahres 1967, dieses Sommers der Liebe, schüttelten sie nur die Köpfe, wenn sie die Schreie des kleinen Mädchens durch das offene Fenster der Palmerschen Wohnung hörten. Fast alle waren sich darin einig, dass die junge Jane Palmer ein so goldiges Kind gar nicht verdient hatte, aber das behielten sie für sich. In diesem Teil Londons kam niemand auf die Idee, eine solche Angelegenheit den Behörden zu melden.
Natürlich hatte Emma keine Ahnung von Begriffen wie Alkoholismus oder psychische Störungen, aber obwohl sie erst drei Jahre alt war, verstand sie es schon, die Launen ihrer Mutter einzuschätzen. Sie wusste genau, an welchen Tagen die Mutter lachen und sie knuddeln und wann sie schimpfen und sie schlagen würde. War die Stimmung in der Wohnung besonders gespannt, packte Emma ihren schwarzen Plüschhund Charlie und verkroch sich in dem Schrank unter der Küchenspüle, um in der feuchten Dunkelheit zu warten, bis die Mutter sich wieder beruhigt hatte.
An manchen Tagen war sie allerdings nicht schnell genug.
»Halt gefälligst still, Emma.« Jane zog die Bürste durch Emmas hellblondes Haar. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand sie dem Drang, ihrer Tochter damit quer über den Rücken zu schlagen. Heute würde sie nicht die Fassung verlieren, heute nicht. »Ich mache dich richtig hübsch. Du möchtest doch heute besonders hübsch aussehen, oder nicht?«
Emma lag nicht allzu viel daran, hübsch auszusehen, nicht, wenn die Bürstenstriche auf ihrer Kopfhaut brannten und ihr neues rosa Kleid so steif gestärkt war, dass es kratzte. Sie zappelte weiter auf dem Stuhl herum, als ihre Mutter versuchte, die widerspenstigen Locken mit einem Band zusammenzuhalten.
»Ich habe gesagt, du sollst stillhalten!« Emma quiekte vor Schmerz, als Jane sie hart am Hals packte. »Niemand will ein schmutziges, ungezogenes Kind.« Nach zwei tiefen Atemzügen lockerte Jane den Griff. Sie wollte keinesfalls, dass das Kind blaue Flecken bekam. Sie liebte es doch. Und blaue Flecken würden auf Brian einen sehr schlechten Eindruck machen, sollte er sie bemerken.
Nachdem sie Emma vom Stuhl hochgezogen hatte, legte ihr Jane fest die Hand auf die Schulter. »Mach nicht so ein mürrisches Gesicht, Mädchen.« Doch im großen und ganzen war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Mit ihren blonden Wuschellocken und den großen blauen Augen sah Emma wie eine verhätschelte kleine Prinzessin aus. »Na, sieh doch mal.« Janes Hände waren wieder sanft, als sie Emma zum Spiegel drehte. »Siehst du nicht niedlich aus?«
Emma zog eine störrische Flunsch, als sie sich in dem fleckigen Glas betrachtete. Ihre Stimme ahmte Janes Cockneyakzent nach, vermischt mit einem kindlichen Lispeln. »Das kratzt.«
»Eine Dame muss Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, wenn sie auf Männer wirken will.« Janes eigenes enges Mieder schnitt ihr ins Fleisch.
»Warum?«
»Das gehört zum Job einer Frau.« Sie drehte sich vor dem Spiegel und prüfte ihr
Weitere Kostenlose Bücher