Narziss Und Goldmund
Freunde seit einer Weile eigentümlich vorsichtig; sehr bescheiden, gar nicht mehr überlegen und belehrend sah er ihn an, während jener ihn so sehr bewunderte. Er sah Goldmund aus geheimen Quellen her mit Kräften gespeist, die ihm selbst fremd waren; er hatte ihr Wachstum fördern können, hatte aber keinen Anteil an ihnen. Mit Freude sah er den Freund sich von seiner Führerschaft befreien und war doch zuweilen traurig. Er empfand sich als überschrittene Stufe, als weggeworfene Schale; er sah das Ende dieser Freundschaft nahe, die ihm so viel gewesen war. Noch immer wußte er mehr über Goldmund als dieser selbst; denn wohl hatte Goldmund seine Seele wiedergefunden und war bereit, ihrem Ruf zu folgen, wohin sie ihn aber führen werde, ahnte er noch nicht. Narziß ahnte es und war machtlos; seines Lieblings Weg führte in Länder, die er selbst nie betreten würde.
Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war
sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen.
Inzwischen war bei Narziß in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, 62
Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilli-gen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Gold-
mund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wußte er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, daß sein Schicksal sich vorbereite, daß eine gewisse Schonzeit der Unschuld und Ruhe nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod.
Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte.
Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber en-deten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverhei-63
ßendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.
Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gottes-lästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Har-monie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.
Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten
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