Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

haben letztendlich alle geholfen. Thierry hat ihr ein Hotel in der Nähe von Gunnars und Juliettas Vorortwohnung besorgt. Kater Carlo hat die Zugfahrkarte gekauft.
    Friedel hat sie zum Bahnhof gebracht.
    Es ist wahr, was Katleen gesagt hat, am Fenster, damals.
Man muss nicht immer gleich lieben.
Man muss überhaupt nicht lieben. Gute Freunde zu haben reicht völlig aus. Freunde, die alles für einen tun. Auch das Äußerste. Lieben … was ist schon lieben?
    In Gunnar war sie einmal
ver
liebt. Aber geliebt hat sie ihn nie. Geliebt hat sie nur einen Menschen, und das ist ihr zu spät aufgefallen. Sie liebt ihn noch immer.
    Er war elf Jahre alt.
    Er ist tot.
    Er ist in ihren Armen gestorben, und es war nicht romantisch und nicht melodramatisch, auch wenn es so klingt, es war nass und dreckig und scheußlich und dann zu Ende. Einfach so,
cut
, aus. Sie hat das Akkordeon noch. Es steht draußen im Flur und wartet auf sie, auch jetzt. Es ist wie ein Teil von Nashville, der immer da ist, immer bei ihr. Sie hat gelernt, ein wenig darauf zu spielen, und dann ist es, als wäre er wieder da. In jedem Ton des Akkordeons steckt ein Bruchteil des Kusses unter der Brücke.
    Und irgendwann hätte der Altersunterschied nichts mehr ausgemacht, weißt du. Irgendwann wären wir beinahe gleich alt gewesen, und es wäre gewesen wie in meinem Traum. Dem vom Walzer im Haus Nummer drei. Die Zeit, weißt du, die Zeit macht alles gleich … die Zeit heilt alle Wunden. Nein. Humbug. Das tut sie nicht. Und es ist gut so. Manche Wunden sind notwendig. Wider das Vergessen.
    Sie tastet nach der bunten Glasperlenkette an ihrem Hals. Sie sieht die Kette noch immer in seiner triumphierend erhobenen Hand, sieht das zerschlagene und dennoch stolze Kindergesicht vor sich. Sie wird dieses Gesicht nie loswerden. Sie tritt einen Schritt näher an das Bett mit der schlafenden Gestalt heran.
    Da ist ein Telefon auf dem Nachttisch. Man könnte selbst den Notarzt rufen. Natürlich erst, nachdem das Blut aufgehört hat zu tropfen. Es geht ja nicht darum, zu verschwinden, geht nicht um Heimlichkeiten. Es geht nur darum, das hier zu tun.
    Tu es nicht, Svenja. Du machst dir dein Leben kaputt. Es liegt noch vor dir, das ganze verdammte Leben. Alle Chancen.
    Aber zwischen den Zeilen gibt es keine Chancen. Dort, wo Nashville war. Es hat nie welche gegeben.
    Sie hebt die Hand mit dem Messer. Es wird ein klarer Schnitt sein, quer über beide Hauptschlagadern. Und quer durch ihr Leben.
    Gunnar … Gunnar. Nashville wollte Sirja rächen, sie und alle anderen. Und jetzt tue ich es für ihn. Jemand muss deinem tödlichen Prinzip des Ideals ein Ende setzen. Kann ich das? Kann ich das tun?
    Eine Minute, sagt sie sich, hat er noch. Eine letzte.
    Das Messer ist scharf.

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    © Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2013
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    Cover von Kathrin Schüler
    E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2013
    Der Abdruck des Liedes »Lili Marleen« (Musik: Norbert Schultze, Text: Hans Leip) erfolgt mit freundlicher Genehmigung von © Apollo-Verlag Paul Lincke GmbH (Universal Music Publishing Group)
    ISBN 978-3-83274-817-4