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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Nashville war zu Fuß unterwegs, und er war schwach, sie würden ihn ein paar Straßen weiter einholen, sicher.
    Svenja hatte ein dummes Gefühl. Ein komisches, mulmiges Ziehen in den Eingeweiden.
    Ach was, sagte sie sich. Sie mussten Nashville nur aufsammeln und wieder zurückbringen, das war alles … Gunnar würde ihm kaum in einer dunklen Ecke auflauern, und notfalls hatte er ein Messer, um sich zu verteidigen. Nein, er brauchte kein Messer, er hatte das Tageslicht und die ganze Stadt auf seiner Seite.
    Kurz vor dem Platz, am Ammerkanal, kamen sie mit den Rädern nicht weiter. Sie lehnten sie gegen ein Geländer und rannten. Svenja hätte gern Friedels Hand genommen, aber sie mussten sich zwischen zu vielen Leuten hindurchschlängeln.
    Die Sonne schien.
    Die Leute aßen Eis.
    Die Leute bummelten an Schaufenstern vorbei.
    Die Leute trugen Sonnenbrillen und Tüten und lächelten.
    Sie sah die kleine, zerzauste Gestalt in dem Moment, als sie den Platz mit der Kastanie erreichte. Sie erreichte den Platz nur Sekunden vor ihnen, schlüpfte aus dem Gedränge …
    »Nashville!«, rief Svenja, aber er hörte sie nicht. Er hatte ein Ziel. Sie hätte nie gedacht, dass er es schaffen würde, zu rennen. Er rannte.
    Sie sah über den Platz, über das Durcheinander aus Stühlen, Tischen, Tassen, Tellern, Menschen, Farben: Tortenrosa, Cocktailtürkis, Milchkaffeebraun, Tapastellerolivgrün, Maracujascheibengelb.
    Laptopgrau.
    Er saß in der Mitte, zwischen allen Stühlen, zwischen allen Tischen, er versteckte sich in der Menge. Zwei Tische hinter ihm saß der metallene König und fuhr seinen Vogel spazieren wie immer, ohne den Mann am Laptop zu bemerken, ohne den Rennenden zu bemerken, ohne zu bemerken, was geschah. Svenjas Mund formte ein Wort, ohne es auszusprechen.
    Gunnar.
    Und dann noch ein Wort.
    NICHT .
    Sie wusste nicht einmal, worauf es sich bezog, es war eine Bitte, ein Befehl, eine Klage. Oder einfach ein Minuszeichen-Wort, das alles ins Umgekehrte verdrehte. Die Welt auf den Kopf stellte.
    Sie waren stehen geblieben, die Tische und Stühle und Menschen waren alle zu eng beieinander, um sie durchzulassen. Nashvilles magerer kleiner Körper fand Lücken, wand sich durch die Menge wie ein Tropfen Quecksilber. Gunnar sah erst von seinem Bildschirm hoch, als es zu spät war. Und Svenja verstand, dass die Messersammlung immer nur einen Zweck gehabt hatte: zu töten.
    Mit einer Reihe von Waffen, zwischen denen man im entscheidenden Moment wählen konnte. Die Messer waren nie dazu da gewesen, zu verteidigen. Oder Polstermöbel aufzuschlitzen und in der Phantasie Rache zu nehmen. Der Plan der Rache war vollkommen real.
    Nashville hielt Sirjas Messer in der erhobenen Faust.
    Er hatte es damals nicht geschafft, Sirja zu helfen. Er würde es nachholen, auf andere Weise.
    Es musste die Wut sein, die ihm die Kraft verlieh, zu tun, was er tat.
    Er sprang.
    Er sprang Gunnar an wie ein Raubtier, das Messer sauste durch die Luft, das Messer war scharf, die Leute an den anderen Tischen standen auf, jemand schrie, die Passanten wichen zurück, dies hier fand nicht mehr zwischen den Zeilen statt. Svenja versuchte, sich vorzudrängen, irgendwo neben ihr war Friedel, sie schob Menschen beiseite, ihre Augen auf dem, was da in der Mitte des Platzes im friedlichen grünen Schatten der Kastanie geschah.
    NICHT . NICHT .
    NICHT .
    Es geschah unglaublich schnell. Sie sah nichts … Sie sah Bewegungen … Sie sah den Laptop herunterfallen, die Bücher, die Kaffeetasse – und hinter dem Tisch kämpften zwei miteinander, die nicht Kind und Erwachsener waren oder Opfer und Täter.
    Nur zwei Menschen.
    Aber das war ein Trugschluss, natürlich waren es ein Kind und ein Erwachsener. Svenja sah, wie Gunnar Nashville festhielt und Nashville ihm entschlüpfte, sie sah, wie Gunnar einen mageren Kinderarm packte und hochriss. Wie er versuchte, Nashville das Messer zu entwinden, das Messer – wo war das Messer? In wessen Hand? Und wer kannte sich besser damit aus? Wer konnte zielgerichteter damit umgehen? Die Antworten waren sehr einfach. Die Bewegungen der Arme und Hände und Köpfe in dem Durcheinander schossen zu einer Fontäne aus reiner Kraft und Wut, aus reinem Hass empor – und fielen in sich zusammen.
    Svenja erreichte sie, als sie beide auf dem Boden lagen, nebeneinander, ineinander, aufeinander. Da war sehr viel Rot. Das Messer fiel. Es fiel aus Gunnars Hand. Er drückte die Hand auf eine Wunde an seinem Oberarm, aus der das Rot sprudelte

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