Nathaniels Seele
Jeder kommt mit einer Aufgabe auf die Welt. Die der meisten Menschen bewegt sich in einem kleinen Umfeld, betrifft die Familie, das Glück oder das Verderben weniger Einzelner. Doch für seine Aufgabe erschien ihm manchmal selbst die Ewigkeit zu kurz. Sie lastete schwer auf ihm. An diesem Abend, da er sich nach Ruhe sehnte, zu schwer.
Ein wütender Laut entfloh Nathaniels Kehle. Er brauchte Abkühlung. Eine kalte Dusche vielleicht. Ruhelos stand er auf, ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel, während er seine Schläfen massierte. Der wahnhafte Blick eines Besessenen präsentierte sich ihm, dessen Intensität ihn im tiefsten Inneren verängstigte. Sein langes, blauschwarzes Haar war feucht und zerzaust, seine Augen dunkel umrandet. Die Membran, die das Fremdartige in ihm verbarg, war dünn geworden.
Erst als das kalte Wasser der Dusche auf ihn hinabprasselte und den Schweiß von seinem Körper wusch, durchströmte ihn Erleichterung. Müde lehnte er sich gegen die weiß gekachelte Wand. Seine empfindsamen Nerven spürten jeden Tropfen, der an seiner Haut hinabrann. Tausendfache, kühle Berührungen. Jetzt, da das Fieber langsam wich, übermannte ihn bleierne Müdigkeit. Nathaniel schloss die Augen, um in einen erlösenden Dämmerzustand zu flüchten.
Doch plötzlich wehte die Stimme durch seinen Kopf.
Tu, was sie gesagt hat
.
Die Worte klangen sanft. Rau vor Alter und trügerisch liebevoll.
„Niemals“, antwortete er und legte seine Hände an die geflieste Wand. „Lass mich in Ruhe. Lass mich wenigstens für ein paar Nächte in Ruhe.“
Du musst es tun. Du musst dem heiligen Ort nahe sein. Je näher du ihm bist, umso größer wird deine Macht
.
„Verschwinde. Ich will diesen Fluch nicht mehr.“
Es ist kein Fluch
,
Plötzlich spürte er die Berührung faltiger, kalter Finger an seinem Rücken.
Es ist ein Segen. Und du weißt das. Damals hast du dein Schicksal angenommen. Vergiss das nicht. Die Dinge ändern sich, und gegen manches kannst du nichts tun. Anderes aber liegt in deiner Macht
.
„Ich bin müde. Ich will meine Ruhe.“
Geh zu ihr
, forderte die Stimme, während sich Nägel schmerzhaft in seine Haut gruben.
Das große Mysterium hat dir den Weg gezeigt, du darfst es nicht abweisen. Geh zu ihr
.
„Nein!“ Mit einer jähen Anstrengung verschloss er seinen Geist, den die Müdigkeit geöffnet hatte. Das Gefühl der bohrenden Finger verschwand, ebenso wie die Stimme. Er drehte den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche und band sich ein Handtuch um die Hüften. Als er diesmal in den Spiegel sah, war das Fieber in seinem Blick verschwunden. Jetzt erfüllte Kälte seine Augen. Eine gnadenlose Kälte, die aus ihm kam und doch nicht die Seine war. Heute Nacht würde er ihn nicht kontrollieren können. Heute Nacht verlangte es ihn nach Freiheit. Und es gab nichts mehr, das er dem entgegensetzen konnte.
Campbell-Farm, Montana
„Stillhalten, Max.“ Josephine kraulte dem Buckskin das Stirnhaar. „Schön stillhalten, in Ordnung? Wir beide schaffen das schon.“
Gelassen mahlte das Pferd mit den Kiefern und schnupperte an der Hosentasche ihrer Bluejeans, darauf hoffend, noch eine Leckerei zu finden. Josephine kam sich albern vor, als sie mit zitternden Fingern Max’ Hals entlangfuhr und vom Gefühl übermannt wurde, die Beine würden unter ihr schmelzen. Ihr Puls raste. Sie war jemand, der gesteckte Ziele zwingend erreichen musste, und nun stand sie wegen dieses Drangs vor einem Abgrund aus Angst.
Als ihr endlich gelang, den Fuß in den Steigbügel zu stecken und sich hochzuziehen, war Max vor Langeweile in einen Dämmerzustand verfallen. Ohren und Kopf des Pferdes gingen in die Horizontale, während Josephine in den Sattel sank und kaum begriff, dass sie oben saß. Nervös rieb sie über den Ärmel ihres schwarzbraunen Karohemdes. Nach vier Jahren saß sie zum ersten Mal wieder auf einem Pferd. Das erste Mal seit dem Sommertag, an dem ihr gemeinsamer Ausritt mit Daniel so tragisch geendet hatte. Was war ihre größte Angst? Von diesem Tier verletzt zu werden? Oder Angst davor, in die Vergangenheit katapultiert zu werden? Sie warf ihren Zopf über die Schulter nach hinten und umklammerte die Zügel so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Als sie das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte, war Daniel noch am Leben gewesen. Er hatte auf seiner schwarzen Stute neben ihr gesessen, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und mit purem Vergnügen in den hellblauen Augen. Wunderbar
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