Nelson, das Weihnachtskaetzchen
und schob die Zeitung beiseite. Eine weitere Flasche kam zum Vorschein und daneben eine zerknüllte Papiertüte aus einer Bäckerei. Etwas Schweres lag darin, und das Papier war an einigen Stellen von Butter durchweicht. Nelson konnte sein Glück kaum fassen: Er hatte etwas zu essen gefunden.
Mit seinen Pfoten und dem Mäulchen versuchte er, die Papiertüte aus dem Mülleimer zu zerren, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren und selbst hineinzufallen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, doch schließlich war es ihm gelungen. Das Tütchen lag auf dem breiten Rand des Mülleimers, und augenblicklich begann er, an dem Papier zu nagen und zu zerren, um den Brotrest zu befreien. Er war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er den Mann erst bemerkte, als er über dem Mülleimer stand.
»Hey, du blödes Vieh! Verschwinde!«
Nelson schoss davon. Er war so hungrig gewesen, dass seine Vorsicht nachgelassen hatte. Blitzschnell war er hinter dem Betonpfeiler verschwunden. Erst in sicherer Entfernung hielt er inne und blickte zurück. Sein Essen lag noch immer auf dem Rand des Mülleimers.
Der Mann, der ihn verjagt hatte, beugte sich über den Mülleimer und begann darin zu wühlen. Seine Kleidung war zerlumpt, und neben ihm stand ein Einkaufswagen voller seltsamer Dinge: Tüten, Radios, Decken und obenauf ein großer Plastiksack. Der Mann zog die leeren Flaschen aus dem Mülleimer und verstaute sie in der großen Tüte.
Nelson wartete ab. Wenn der Mann fort war, wollte er sich den Brotrest schnappen. Das Wasser lief ihm bereits im Mund zusammen. Endlich würde er etwas essen.
Der Mann murmelte vor sich hin, knotete den Sack zusammen und schob den Einkaufswagen um den Mülleimer herum. Doch dann hielt er inne. Er hatte die zerknüllte Brottüte entdeckt. Mit seinen schmutzigen Fingern packte er ein Stück Weißbrot aus, steckte es sich in den Mund und warf die leere Papiertüte fort. Dann stieß er einen Rülpser aus und schob seinen Einkaufswagen davon. Es wurde wieder still auf dem Bürgersteig.
Nelson spürte den eisigen Wind. Er zwängte sich durch das Lüftungsgitter in sein Versteck und verkroch sich in einer windgeschützten Ecke. Nicht nur die Kälte und der Hunger machten ihm zu schaffen, er fühlte sich auch furchtbar einsam. Traurig dachte er daran, wie er in Maries Bett sprang und sich von ihr den Bauch kraulen ließ. Wie er zu ihr unter die Decke kroch und beim Einschlafen ihre Wärme spürte. Was sie wohl gerade machte? Ob sie auch an ihn dachte?
Er schloss die Augen und träumte davon, wie Marie ihm eine Dose Katzenfutter öffnete. Und beim Gedanken an ihr warmes und weiches Bett fiel er schließlich in einen tiefen traumlosen Schlaf.
5
Ein neuer Tag auf dem Weihnachtsmarkt vorm Roten Rathaus. Arthur Hummel hielt sich wärmend die Hände ans kleine Elektroöfchen, das er gerade erst eingeschaltet hatte und das nur langsam begann, Wärme abzustrahlen.
Er blickte auf das Geschehen vor seinem Stand. Vitrinen wurden geputzt, Waren sortiert und Grillroste angeheizt. Schräg gegenüber am Kettenkarussell wurde die Musik eingeschaltet. Bing Crosby sang mit schmelzender Stimme von weißen Weihnachten. Der Schausteller am Karussell, ein junger Mann in dickem Skianzug, begann die Sitzflächen abzuwischen. Immer wieder hielt er inne und plauderte gut gelaunt mit vorbeikommenden Kollegen. Auch der türkische Junge vom Sockenstand nebenan blieb am Karussell stehen und redete mit dem Schausteller. Die beiden schienen sich richtig zu mögen.
Die ersten Gäste schlenderten über den Markt, doch viel war noch nicht los. Arthur dachte an die Katze, die gestern bei ihm aufgetaucht war. Er sah sich um, aber sie war nirgends zu sehen. Am Kettenkarussell stand inzwischen eine junge Frau. Sie unterhielt sich mit dem Schausteller, ihr affektiertes Lachen war zu hören, der Schausteller grinste breit und ließ sie kurz darauf Platz nehmen, ehe er das Karussell startete – für sie ganz allein, als einzigen Gast. In einem Meer von dahinfliegenden leeren Sitzen sauste sie glücklich lachend und winkend dahin.
»Was für ein Unsinn«, brummte Arthur missmutig.
Er konzentrierte sich auf seine Zeitung, die er wie jeden Morgen las. Sollten die anderen doch machen, was sie wollten. Er war jedenfalls hier, um Geld zu verdienen.
Plötzlich war da eine Stimme vor seinem Stand.
»Guten Tag, Arthur Hummel! Wie geht es Ihnen?«
Überrascht sah er auf. Die Märchenerzählerin stand vor ihm und strahlte ihn an. Sie trug einen dunklen
Weitere Kostenlose Bücher