Traummann auf Raten
1. KAPITEL
Die Luft im Arbeitszimmer war kalt und abgestanden. Außerdem war es düster, denn draußen ging ein nebliger Februartag zu Ende, und die halb zugezogenen Vorhänge vor den hohen Fenstern ließen nur wenig Licht herein. Trotzdem hatte die junge Frau im massigen Ledersessel neben dem Kamin weder eine der Lampen eingeschaltet noch die ordentlich geschichteten Scheite auf dem Rost angezündet.
Ihr einziger Schutz gegen die Kälte war ein alter Hausmantel aus Samt, den sie wie eine Decke über ihre Beine gebreitet hatte. Und jedes Mal, wenn sie darauf hinabsah und den ausgeblichenen Stoff berührte, stieg ihr ein schwacher Zigarrenduft in die Nase.
Unvorstellbar, dass Lionel den Mantel nie wieder tragen würde. Dass er nie wieder durch diese Tür kommen würde, groß, laut und unerschütterlich gütig. Dass er sich nie wieder die Hände reiben und über das Wetter beklagen würde, das Gesicht gerötet von einem Marsch mit den Hunden über die Hügel oder einem Ausritt auf seinem neuesten Jagdpferd.
Als der neue Fuchs am Vortag ohne ihn heimgekehrt war, hatte Sadie, die Pferdepflegerin, berichtet, sie habe Lionel gewarnt, dass das Tier noch zu fremd sei. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie noch vermutet, Lionel wäre abgeworfen worden und hätte sich schlimmstenfalls das Schlüsselbein gebrochen.
Stattdessen hatte er jedoch eine schwere Herzattacke erlitten und war aus dem Sattel gestürzt, wie Dr. Fraser ihnen später erklärte. Genau der Tod, den Lionel sich gewünscht hätte, hatte der Arzt hinzugefügt.
Joanna konnte damit umgehen. Lionel war stets rastlos und aktiv gewesen. Nachdem er vor fünf Jahren als Vorsitzender von Verne Investments zurückgetreten war, hatte er unablässig nach einer Beschäftigung gesucht, um die Langeweile zu vertreiben. Nach einem Leben voller Hektik hatte er nichts mehr gefürchtet, als chronisch krank zu sein oder gar bettlägerig.
Das änderte allerdings nichts am Schock für die Hinterbliebenen. Joanna wurde die Kehle eng. Ihre Gedanken drehten sich pausenlos um eine Frage: Was würde nun aus ihr werden?
Lionels Tod hatte alles geändert und alte Gewohnheiten über den Haufen geworfen.
Bis gestern war sie Joanna Verne gewesen, seine Schwiegertochter. Die Frau, die ihm den Haushalt führte und sich mit all den lästigen häuslichen Dingen befasste, mit denen er nicht behelligt werden wollte.
Vierundzwanzig Stunden später war sie zur unerwünschten Person geworden. Die entfremdete Frau von Lionels Sohn und Erben Gabriel Verne, der die letzten beiden Jahre damit verbracht hatte, um den Globus zu jetten und den Erfolg von Verne Investments zu mehren. Er hatte dafür gesorgt, dass sein Vater und er nicht nur reich, sondern superreich waren.
Gabriel würde jetzt nach Hause kommen, um Westroe Manor für sich zu beanspruchen und endlich die Frau loszuwerden, die er nie gewollt hatte. Und deren Stiefmutter, dachte sie bitter.
In der Ferne hörte sie die Türglocke läuten. Joanna schob den wärmenden Mantel beiseite und stand auf. Sie hatte Henry Fortescue, Lionels Anwalt, um einen Besuch gebeten und wollte nicht, dass er sie grübelnd in der Dunkelheit vorfand. Schließlich war sie es sich selbst – und Lionel – schuldig, dass sie sich tapfer den Tatsachen stellte.
Nachdem sie die Vorhänge vollends geschlossen hatte, schaltete sie den Kronleuchter ein und kniete sich vor den Kamin, um das Feuer zu entfachen. Als Mr. Fortescue von Mrs. Ashby hereingeführt wurde, loderten die Flammen über die Scheite, und das Arbeitszimmer wirkte wesentlich heimeliger.
Henry Fortescues Miene war angespannt und traurig. Er und Lionel waren seit ihrer Kindheit befreundet gewesen. Mitfühlend erhob Joanna sich und wischte sich die staubigen Hände an den Jeans ab.
Er kam zu ihr und nahm ihre Hand. „Joanna, meine Liebe. Es tut mir so Leid … Ich kann es noch immer kaum fassen.“
„Ich auch nicht.“ Sie tätschelte seinen Arm. „Ich werde mir einen Whisky gönnen. Leisten Sie mir dabei Gesellschaft?“ Angesichts seines Erstaunens musste sie lächeln. „Ich bin alt genug, und ich finde, wir könnten beide einen vertragen.“
„Da haben Sie sicher Recht.“ Zögernd erwiderte er ihr Lächeln. „Aber bitte nur einen ganz kleinen. Ich muss noch fahren.“
„Quellwasser?“ fragte Joanna, während sie den Barschrank öffnete.
„O ja. Ich würde es nie wagen, Lionels Andenken zu beleidigen, indem ich seinen besten Maltwhisky mit Soda mische.“ Er hob das Glas, das sie ihm
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