Neva
redete sie mit sich selbst. Die Stille breitet sich aus.
»Die Protektosphäre bringt uns um«, platzt Sanna heraus.
Jemand schnappt hörbar nach Luft. Noch keiner hat es gewagt, so etwas laut auszusprechen. Ihre Worte hängen in der Luft wie Kristalle, die einen Ausweg aus der Dunkelheit suchen, weil sie erst im Sonnenlicht blitzen können. »Wir alle wissen es. Die Regierung beschneidet unsere Zukunft. Weniger Wahlmöglichkeiten. Weniger Ressourcen. Man hält uns mit Lügen darüber, was sich außerhalb befindet, hier gefangen. Wir müssen etwas tun.«
Ich bin so stolz auf sie, dass mir das Herz aufgeht. Wenn ich doch auch nur so mutig wäre!
Sanna fährt fort: »Bleibt hier, wenn ihr euch mit uns zusammentun und verlangen wollt, dass die Protektosphäre die Tore öffnet. Wir haben ein Recht zu erfahren, was dort draußen ist. Wir haben ein Recht auf eine Zukunft.«
Meine Großmutter war sich sicher, dass außerhalb der Protektosphäre noch Leben existiert. Die Überzeugung, dass es jenseits unserer unter Strom stehenden Kuppel etwas anderes gibt, ist wie mein Glaube an ein Leben nach dem Tod: Ich klammere mich geradezu verzweifelt daran und hoffe, dass es der Wahrheit entspricht.
»Wenn ihr nicht mitmachen wollt, dann solltet ihr besser gehen.« Wir hatten gehofft, dass die Anonymität der Dunkelheit uns helfen würde, aber im Augenblick fühle ich mich dennoch bloßgestellt. »Doch wenn ihr jetzt geht – und es ist vollkommen okay, wenn ihr es tun wollt oder müsst –, vertraue ich darauf, dass ihr die Klappe haltet.«
Ich höre, wie sich jemand bewegt. Ich warte darauf, dass er oder sie an mir vorbeigeht, aber es geschieht nicht. Wie ein Blinder ohne Stock wedele ich mit den Armen vor meinem Körper umher. Meine ausgestreckten Fingerspitzen berühren Hände, und die Person kommt direkt in meine Arme. Erst denke ich, es ist Ethan, bis Finger behutsam meine Halskette entlangfahren und an der Schneeflocke, die zwischen meinen Brüsten liegt, innehalten. Eine Hand legt sich an meinen Hals und neigt ganz leicht meinen Kopf. Und dann werde ich geküsst, nicht süß und sanft, wie Ethan es tut, sondern drängend und leidenschaftlich. Starke Arme umfassen mich. Unsere Körper schmiegen sich aneinander. In meinem Innern verspüre ich ein Ziehen, wie ich es nie zuvor gekannt habe. Ich will mich losmachen, aber er gibt nicht nach, hält mich nur noch fester. Ich schlinge meine Arme um diesen Fremden und küsse ihn, bis mir die Luft ausgeht. Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt. Ich sollte aufhören, aber ich kann nicht. Wieder und wieder küsse ich ihn.
Gestalten stoßen gegen uns. Die Leute gehen, aber das kümmert mich nicht. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit habe ich die Hoffnung, als könnte aus meinem Leben – als könnte aus
mir –
doch etwas anderes werden. Ich zögere, muss ihn jedoch schließlich loslassen. Meine Knie sind butterweich. Ich sinke zu Boden.
Als er geht, stößt sein Fuß leicht gegen meine Hand. Ich fühle glattes, makelloses Leder und die Form der Stiefel. Unverkennbar.
Ich berühre meine Lippen. Braydon?
Der Wecker beendet die Party mit seinem Summen. Sanna schaltet wie geplant das Licht ein. Einen Augenblick lang bin ich nahezu blind. Der Raum ist fast leer; weniger als ein Dutzend Leute blinzeln sich nervös an.
Braydon hält Sanna im Arm. Als er mir einen Blick zuwirft, schaue ich weg. Warum küsst er im Dunkeln eine Fremde? Hat er gewusst, dass ich es bin?
Ich suche nach Ethan, aber er ist nicht mehr da. Ich hatte gehofft, dass er bleiben würde, aber das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Der alte Ethan hätte mir zur Seite gestanden. Aber dieser hier hat resigniert, hat sich in die von der Regierung gebilligte Version einer Zukunft ergeben.
Sanna erklärt gerade unserem wild zusammengewürfelten Trüppchen von Rebellen, wo und wann wir uns morgen treffen wollen.
Plötzlich fühle ich mich, als hätte das Licht mich vollkommen entkleidet und jeder würde mich anstarren – als könnte jeder den Verrat auf meiner nackten Haut sehen. Denn ich habe meinen Vater, meine beste Freundin und Ethan verraten.
»Ihr geht besser, bevor meine Eltern nach Hause kommen«, sage ich und sehe überall hin, nur nicht zu Braydon.
Allmählich breitet sich nun eine Finsternis in meinem Inneren aus.
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2 . Kapitel
E in Nachtlicht in Form einer Schneeflocke leuchtet in einem Winkel meines Schlafzimmers. Es wirft Dreiecke aus Licht an die Decke. Ich kann nicht schlafen.
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