Nibelungengold 02 - Das Drachenlied
doch wußte Alberich, wenn man ihm jetzt ein Horn geben würde, dann hätte er ihm dieselben Töne entlocken können. Es war in ihm, in seinem Blut, im Erbe seiner Ahnen. Es war, und daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr, die reinste und herrlichste Albenmagie.
Je näher er dem Kadaver des Drachen kam, desto deutlicher wurde sie, desto größer wurde der Zwang, sie spielen zu müssen.
Alberich ging an der Seite des Geweihten, die Hände gebunden, ansonsten aber frei. Die Wächter, die vorher nicht von seiner Seite gewichen waren, hatte der Geweihte zurücktreten lassen. Ohnehin war die Heide von ihnen bevölkert, und ein Fluchtversuch war zum Scheitern verurteilt. Nur rund um den Drachen, in einem Umkreis von zwanzig Schritten, hielt sich keiner von ihnen auf. Die Versuche, dem Untier mit Spitzhacken beizukommen, waren eingestellt worden.
»Sie fürchten ihn von Tag zu Tag mehr«, erklärte der Geweihte mit tuschelnder Stimme. »Das ist gut so.« Er ließ offen, wie er die letzte Bemerkung meinte.
Alberich trug grimmigen Trotz zur Schau, aber insgeheim wunderte er sich, warum der Geweihte ihn am Leben ließ. Es hatte etwas mit der Magie seines Volkes zu tun, dem gleichen Zauber, den auch das Moosfräulein in sich trug. Wie auch der Drache, als er noch lebte. Und der Geweihte selbst?
»Die Totenstarre wird bald ihren Höhepunkt erreichen«, sagte der Geweihte, als sie den Kadaver fast erreicht hatten. »Sein Äußeres ist bereits versteinert, die Starre frißt sich durch seine Eingeweide zum Herz. Erst dann wird er aufhören, Botschaften auszusenden.«
»Botschaften?« fragte Alberich verwundert.
Der Geweihte blinzelte abschätzend auf den Zwerg herab, als hätte er ihn beleidigt. »Die Melodie. Ich weiß, daß Ihr sie hören könnt, gerade jetzt, in diesem Augenblick.«
»Dann hört Ihr sie auch?«
»Leiser als Ihr, schwächer und nicht vollständig. Deshalb brauche ich Eure Hilfe.«
»Meine… Hilfe?« wiederholte Alberich befremdet.
Der Geweihte nickte knapp. »Eure oder die des Moosfräuleins. Das ist einerlei. Und genaugenommen bin nicht ich es, dem Ihr helfen sollt, sondern er!« Er deutete auf den Drachen. Aus der Nähe wirkte das Untier noch größer, wie ein Hügel aus versteinerten Schuppen und Muskelsträngen, die dicker waren als die mächtigsten Eichen. Der verdrehte Leib, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken liegend, war so hoch wie ein Haus. Alberich sah, daß die Kruste des Blutsees mit weißgrauen Pilzen bedeckt war.
»Welche Art von Hilfe meint Ihr?« Er legte Schärfe in das Wort, um ihm den freundlichen Klang zu nehmen. Hilfe wurde freiwillig gegeben; er aber bezweifelte, daß man ihm eine Wahl lassen würde.
Die Mundwinkel des Geweihten zuckten unter den Hornsträngen seiner Maske. »Seht selbst…«
Er führte Alberich um den Leichnam herum, bis sie jene Seite des Tieres erreichten, die von der Höhle, den Kriegern und den Sklaven am Klippenrand abgewandt war. Dort, wo der Zwerg den Brustkorb des Drachen vermutete, klaffte ein Loch im Schuppenpanzer der Bestie. Dahinter führte zwischen freiliegenden Rippen ein enger schwarzer Tunnel mitten in den Kadaverberg.
»Ihr wollt doch nicht, daß ich dort hineingehe?«
»Später. Erst aber –«
Der Zwerg unterbrach ihn lautstark. »Ich denke nicht daran.«
Ruckartig beugte sich der Geweihte zu ihm herunter. Sein Blick bohrte sich stechend in Alberichs Augen. Seine Stimme bekam einen düster-melodiösen Klang. »Wenn ich es für richtig halte, werdet Ihr es tun !«
Zu seinem Erstaunen hielt der Zwerg der Beeinflussung stand. »Nein«, sagte er hart. »Werft mich von der Klippe oder erschlagt mich gleich, aber ich werde nicht für Euch in dieses… Ding klettern.«
Allein der Gestank, der ihm aus dem Inneren des Kadavers entgegenwehte, gab ihm den Mut, sich zu widersetzen. »Warum gebt Ihr nicht einem Eurer Männer den Befehl dazu, wenn es Euch so wichtig ist?«
»Was glaubt Ihr, wer den Tunnel durch das Fleisch des Drachen gegraben hat? Sklaven, Krieger, gewöhnliche Menschen. Nicht einer von ihnen ist wieder herausgekommen. Der Drachenleib hat sie verschlungen, sogar noch im Tode.«
»Das bestärkt mich nicht gerade in dem Wunsch, Euch behilflich zu sein.«
,»Ihr seid anders«, zischte der Geweihte zornig. »Ihr seid von seinem Blut. Ihr seid wie er.«
»Und Ihr? Was ist mit Euch? Habt Ihr etwa Angst, dort hineinzugehen?«
Einige Herzschläge lang wich die Finsternis aus dem Blick des Geweihten, und an ihre Stelle trat
Weitere Kostenlose Bücher