Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
Heimat.
»Mark!«, sagte sie leise und eindringlich. »Ich bin’s.«
»Allie?«
Der Klang der Stimme veränderte sich. »Verdammte Sch… Wie geht’s dir, ey?«
»Ich steck in der Klemme.«
Aus seiner Stimme wich die Freude. »Wo bist du? Zu Hause? Stress mit deinen Eltern?«
»Nein«, sagte sie. »Ich bin in der Schule. Es ist was passiert. Was Schlimmes.«
»Was soll ich tun?«, fragte er, ohne zu zögern.
Sie sah aus dem Fenster, wo langsam die Dämmerung einsetzte: »Willst du mit mir abhauen?«
Um diese Uhrzeit war auf der Straße nicht viel los. Allie hob einen Stock auf, warf ihn mit Macht auf eine Wiese, über die sich gerade die Dunkelheit senkte, und lauschte auf das dumpfe Geräusch, mit dem er irgendwo auf dem weichen Boden aufschlug.
Hier gab es keine Straßenlaternen, und die einzigen Häuser standen ein gutes Stück von den Feldern entfernt – gerade dass man deren Beleuchtung noch sehen konnte. Und trotzdem: Hier, wo nicht die Bäume alles Licht verschluckten, ging es ihr besser. Überhaupt ging es ihr immer besser, je weiter die Schule hinter ihr lag.
Ihr linkes Knie fühlte sich ein bisschen taub an, aber es trug ihr Gewicht. Es würde durchhalten, bis sie in der Stadt war.
Gedankenverloren stolperte Allie in der Dunkelheit über ein Schlagloch und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten.
Konzentrier dich, Allie
, schalt sie sich.
Wenn du dir jetzt die Haxen brichst, landest du nur wieder auf der bescheuerten Krankenstation.
Plötzlich durchbrach ferner Motorenlärm die Stille der Landstraße. Allie versuchte, sich durch die Hecke zu zwängen, doch diese bildete zu beiden Seiten der Straße eine dichte Wand. Die Scheinwerfer des Wagens kamen näher.
Panisch warf sie sich in die Hecke, ohne auf die scharfen Äste zu achten, die in ihre Haut stachen. Sie schob sie, so gut es ging, beiseite, bis sie nicht mehr weiterkam, und wartete dort.
Könnte auch einfach nur jemand hier aus der Gegend sein
, überlegte sie.
Das muss nicht unbedingt einer von den Wachleuten aus Cimmeria sein.
Dennoch hielt sie so lange die Luft an, bis der Wagen an ihr vorbeigerauscht war, und atmete erst aus, als er in der Nacht verschwunden war.
Sie hatten sie nicht entdeckt.
Sie ging weiter und pflückte sich dabei ein paar trockene Zweige aus dem Haar. Nach diesem Erlebnis schien die Dunkelheit noch schwerer.
Der ganze Körper tat ihr weh, und die Kälte kroch ihr in die Knochen. Um sich abzulenken, versuchte sie sich vorzustellen, was Rachel in der Schule jetzt wohl gerade tat.
Rachel war ihre beste Freundin und ein totaler Bücherwurm, deshalb war Allie sich ziemlich sicher, dass sie genau wusste, womit Rachel sich beschäftigte: mit ihrer Hausarbeit für den Chemie-Vertiefungskurs. Vermutlich saß sie in einem Ledersessel in der Bibliothek, ihre Bücher um sich herum ausgebreitet im Schein der Tischleuchte. Die Lesebrille rutschte ihr von der Nase, und sie war glücklich versunken in komplexe Formeln und Diagramme.
Bei diesem Bild musste Allie lächeln. Aber das Lächeln verschwand schnell wieder.
Wird sie mir je verzeihen, dass ich fortgelaufen bin, ohne ihr Bescheid zu sagen?
Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Es spielte keine Rolle, was die anderen dachten – auch nicht Rachel. Sie musste das tun.
Jos Mörder mussten bestraft werden. Und wenn sonst keiner etwas tat, würde Allie das eben allein erledigen.
[zurück]
Vier
Die Marschrichtung stimmte, aber was die Entfernung anging, hatte sie sich ziemlich verschätzt – es waren weit mehr als drei Kilometer, und als Allie zwei Stunden später das kleine Städtchen erreichte, spürte sie ihre Füße kaum noch.
Nach dem langen Marsch auf der dunklen Straße musste sie sich erst wieder an das grelle Licht und den Verkehrslärm gewöhnen, doch zum Glück war der Ort nicht besonders groß, und Allie wusste, dass sie, wenn sie nur immer Richtung Zentrum ging, schließlich finden würde, wonach sie suchte.
Und tatsächlich wies ihr bald ein altmodisches, schmiedeeisernes Schild den Weg zum Bahnhof. Er war fast menschenleer – der nächste Zug kam noch eine ganze Weile nicht. Der Wartesaal war verschlossen, die Fahrkartenausgabe ebenfalls zu. Deshalb ließ sie sich auf einer kalten Metallbank am Bahnsteig nieder und wartete. Die Nachtluft war frostig – Allies Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft, und eine Zeit lang versuchte sie aus Spaß, Rauchringe zu blasen.
Aber ewig konnte man das auch nicht machen. Und so
Weitere Kostenlose Bücher