Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
werden. Allie hatte die behandschuhten Hände in die Taschen gesteckt und ballte sie zu eiskalten Fäusten.
Wenigstens weiß ich, wo ich lang muss
, sagte sie sich.
In letzter Zeit war sie so oft im Krankenhaus gewesen, dass sie sich in der Gegend gut auskannte. Es beruhigte sie, über den genauen Weg nachzudenken und sich eine Route zurechtzulegen.
Nach ihrer Berechnung konnte die Hauptstraße nicht weit sein. Dort musste sie sich nur nach rechts wenden und den Schildern folgen. An der Straße standen auch weniger Bäume, und es war heller. Und bestimmt nicht mehr so gruselig.
Ich muss nur diesen Wald durchqueren, dann bin ich in Sicherheit. Ganz einfach
.
Alles ging glatt, und sie hatte die Kreuzung fast erreicht, als sie ein Geräusch vernahm, ganz leise, wie wenn jemand einatmet. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf.
Sie schnappte nach Luft, machte eine Finte nach rechts und duckte sich hinter den dicken Stamm einer mächtigen Kiefer. Die Hände an der rauen Rinde, spähte sie in die Finsternis.
Was immer es war, sie glaubte nicht, dass es nur ein Rauschen der Zweige gewesen war. Von ihrem Versteck aus konnte sie niemanden sehen. Doch der Wald war dunkel und voller Schatten, die im Wind zitterten und tanzten. Jeder konnte ein Mensch sein. Jeder ein Mörder.
Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer.
Da könnte irgendwer genau hinter mir stehen, und ich würde ihn nicht mal erkennen. Gerade jetzt könnte Gabe nur ein paar Meter entfernt dastehen und mich beobachten.
Der Gedanke jagte ihr Angst ein. Ein mulmiges Gefühl überkam sie, und sie hämmerte sich mit der behandschuhten Faust gegen die Stirn.
Gott, warum habe ich das getan? Was bin ich für eine Idiotin. Ich bin ihm geradewegs in die Arme gelaufen …
Sie klammerte sich an den Baumstamm und versuchte, Ruhe zu bewahren. Falls da tatsächlich jemand war, dann musste sie jetzt unbedingt
nachdenken
.
Eine Weile stand sie da wie erstarrt und lauschte – bereit, beim geringsten Geräusch davonzurennen. Aber da waren nur die Stille und Bäume, die sich über ihr im Wind wiegten.
Allie überlegte. Sie sah und hörte nichts. Dass da wirklich noch jemand war, sagte ihr einzig und allein ihr Instinkt. Sie versuchte, sich ans Training zu erinnern. Was hätte Raj ihr in so einer Situation geraten?
Vertraue deinem Instinkt, aber mach dich nicht zu seinem Sklaven
, hätte er gesagt.
Reagiere nicht auf deine Angst – reagiere auf Fakten.
Fast konnte sie die beruhigende Stimme ihres Ausbilders hören: »Und was sagen dir die Fakten in diesem Moment, Allie?«
Ich kann niemanden sehen oder hören. Ich habe alles nach Vorschrift geprüft und keine echte Bedrohung entdeckt.
»Die Fakten sagen mir, dass da niemand ist«, flüsterte sie und versuchte, das zu glauben.
Wie auch immer – ob sich da nun wirklich jemand hinter den umstehenden Bäumen versteckte oder nicht –, sie hatte zwei Optionen: abwarten und sehen, ob jemand auftauchte, oder weitergehen und hoffen, dass dem nicht so war.
Sie entschied sich für die zweite Option.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht hinkte sie, so schnell sie konnte, durch den Wald Richtung Straße. Ihre Strickmütze rutschte ständig zur Seite. Sie riss sie sich vom Kopf und hielt sie fest in der Hand, bis sie endlich auf der Kreuzung stand. Erst da traute sie sich, stehen zu bleiben und zurückzuschauen.
Da war nichts als leerer Wald.
Keuchend beugte sie sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Ihre Lunge schmerzte vor Anstrengung und Kälte.
Dabei hatte sie noch einen weiten Weg vor sich. Jeden Augenblick konnten die hier sein – sie musste weiter.
Sie schlug den Weg ein, den die Landkarte in ihrem Kopf ihr anwies. Rechts und links der gepflasterten, einspurigen Straße standen hohe Hecken, die um diese Jahreszeit alle Blätter verloren hatten. Dahinter erstreckten sich matschige Weiden und Felder, die alsbald im Dämmerlicht verschwanden.
Die Straße war eben. Ab und zu tauchte eine Laterne auf. Wenn sie recht hatte, lag die Stadt nur ein paar Kilometer entfernt an der Straße.
Ich muss nur weitergehen und unterwegs keinen Nervenzusammenbruch kriegen
, dachte sie und zog eine Grimasse.
Um sich die Zeit zu vertreiben, ließ sie ihre Flucht Revue passieren.
Letztlich war es kinderleicht gewesen. Fast als hätten sie es herbeigesehnt, dass sie ging.
Nachdem sie Isabelles Handy an sich genommen hatte, war sie die Treppe hinaufgeeilt. Das kleine Gerät in ihrer Tasche wog schwer wie ein Betonklotz, als wäre es
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