Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
ein Spiegel an die Wand gelehnt, durch dessen Mitte ein langer Riss ging.
Vampa trat ein paar Bücher weg und ließ sich vorsichtig auf die Matratze sinken, um seinem Spiegelbild einen Blick zuzuwerfen. Seine Lippe war aufgesprungen. Er versuchte, den Mund so schmerzfrei wie möglich aufzumachen, und sah, dass sein oberer Vorderzahn abgesplittert war. An seinem Kinn prangte eine dunkelblaue, fast schwarze Prellung mit einer blutigen Platzwunde in der Mitte. Mit ein wenig Fantasie hätte man meinen können, er habe sich mit Ruß einen Ziegenbart malen wollen.
Vampa wandte sich vom Spiegel ab. Der Schmerz war vollkommen nebensächlich; statt seiner blutigen Fingerknöchel starrte er das große, schwere Buch auf seinem Schoß an.
Oder ob er doch erst warten sollte, bis es ihm besser ging? In diesem Zustand wollte er schließlich nicht bleiben, sollte das Buch tatsächlich …
»Ach was«, murmelte er. Die Ungeduld war viel stärker als alles andere.
Er klappte behutsam den Deckel auf. Die erste Buchseite war leer. Die zweite auch. Auf der dritten standen ein Titel und der Name des Schriftstellers. Bevor er die Buchstaben las, durchströmte ihn eine jähe Hoffnung. Die Schrift, die dunkelrote Tinte - das alles war richtig! Ein Volltreffer! Eins von den Blutbüchern … Während der ganzen, furchtbaren Jahre hatte er nur zwei gefunden. Zwei falsche. Dies war das dritte.
Seine Finger begannen zu zittern. Langsam las er, Wort um Wort …
Von Professor Rufus Ferol.
Das Neunzehnte Buch.
Der Junge Gabriel
Er konnte nicht atmen. Nicht denken. Die Enttäuschung wälzte so schwer über ihn hinweg, dass er die Zähne zusammenbiss und jeden Muskel verkrampfte.
Ein richtiges Buch und doch nicht sein richtiges, das neunzehnte konnte es schließlich nicht sein. Und die ganze Nacht, der Sprung, die Schmerzen, alles - umsonst.
Er hätte geweint, wenn er es noch gekonnt hätte. Aber seine Tränen waren längst aufgebraucht, vergossen in den unzähligen Nächten vor dieser.
Er legte sich auf die Matratze und deckte sich zu. Ihm war kalt geworden. Er machte sich so klein er konnte, wischte sich mit dem Ärmel die Nase, die gerade zu bluten begann, und zog das Buch zu sich heran. Von der niedrigen Decke des Kanalschachts tropfte es auf die Seiten herab, aber das war egal. Das Buch war für ihn wertlos - so wertlos wie Papier mit aufgeschmierter Tinte.
Und trotzdem … Er konnte nicht widerstehen, mit dem Lesen anzufangen. Wenn er schon nichts anderes haben konnte, dann wenigstens das: die Geschichte eines anderen. Das machte die Leere ein bisschen erträglicher. Aber das Leben eines Fremden bleibt fremd und ist, selbst wenn man es liebt, niemals das eigene.
Vampa las, bis sein Ärmel vom Nasenbluten durchtränkt war. Dann schwanden ihm die Sinne und er versank in weicher, tiefer Dunkelheit.
Das war die einzige Erinnerung, die man ihm gelassen hatte. Sie war noch da wie eine ausgerupfte Pflanze, nachdem man einen Garten zerstört hatte:
Vampa ging durch die heruntergekommenen Viertel der Stadt. Die Gassen waren schmal, die Häuser über Jahre hinweg durch wackelige Zubauten immer höher gewachsen. In der Nähe hatten Fabriken aufgemacht und der Geruch von Blei, Schwefel und Schweiß entzündete die Luft. Das dumpfbrummige Grollen der Industrietürme war fortwährend zu hören, wie das Schnarchen von Drachen, die gleich erwachen konnten. Rauchschwaden, die zu jeder Tageszeit aus den mächtigen Schornsteinen quollen, verbargen den Himmel hinter rotfleckigem Dunst.
Vampa wusste noch, dass er sich in den engen Gassen verloren gefühlt hatte, aber das Gefühl selbst kannte er nicht mehr. Er kam an einem düster aussehenden Haus vorbei. In den Schatten der Mauern bewegte sich jemand. Er erinnerte sich an glänzende schwarze Schuhe, die aus dem Dunkel in eine ölige Pfütze traten. Und er erinnerte sich an einen glänzenden schwarzen Zylinder, nur das Gesicht darunter blieb ihm verborgen.
»Hallo, Junge«, sagte eine Stimme, aber er konnte sich nicht an ihren Klang erinnern. Oft hatte er überlegt, dass man ihm diesen Klang mit Absicht genommen hatte, ebenso wie das Gesicht unter dem Zylinder. »Was bist du für ein feiner junger Kavalier. Ich bin sicher, du verdrehst den Mädchen den Kopf, nicht wahr?«
Unsicher trat er einen Schritt zurück, aber der Mann in den Schatten machte keinerlei Anstalten, ihn am Weglaufen zu hindern. Vielleicht war das der Grund, warum er blieb.
»Oder hast du sehr liebe Eltern, die dich gut
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