Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
war völlig aufgelöst gewesen, als Apolonia von der Schule genommen wurde. Seitdem schlug ihr Kindermädchen bei jeder Gelegenheit ein Kreuz, summte Kirchenlieder, wenn sie Apolonia anzog und das Badewasser vorbereitete, und fragte sie allwöchentlich, ob sie die Sonntagsmesse besuchen wolle.
»Nein«, war Apolonias Antwort darauf. Gott brauchte sie nicht. Sie hätte ihn gebraucht, als ihre Existenz in Rauch aufging. Sie hätte ihn gebraucht, als ihr Vater seine Geisteskraft verlor. Sie hätte ihn gebraucht, als ihre Mutter ermordet wurde. Für Gottes Hilfe war es jetzt ein bisschen spät.
Apolonia kam auf eine öffentliche Schule mit Jungen und Mädchen, die sich laut und rüpelhaft benahmen. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis voller Verbrecher: In den Pausen spielten die Kinder mit lebendigen Fröschen und Grashüpfern, rauchten Zigaretten und prügelten sich - nie im Leben hätte sie gedacht, einmal solcher Barbarei ausgeliefert zu sein. Apolonia weigerte sich beharrlich, neben einem Jungen zu sitzen, der sich während des Unterrichts die Fußnägel schnitt.
»Das ist eine Zumutung«, erklärte sie der Lehrerin, einer spitznasigen Frau, in deren Gesicht sich durch den jahrelangen Umgang mit Kindern Verächtlichkeit gegraben hatte. »Ich verlange einen Einzeltisch, oder ich sehe mich gezwungen, eine Beschwerde gegen Sie einzureichen.«
Ohne Vorwarnung gab die Lehrerin ihr eine Ohrfeige. Und noch ehe jemand ein Wort hätte sagen können, ohrfeigte Apolonia sie zurück. Das Toben im Klassenzimmer war so
unbeschreiblich, dass Apolonia sich wie die Heldin in einer griechischen Tragödie vorkam.
Ihrem Onkel erzählte Apolonia, ihre herausragende Intelligenz sei der Grund gewesen, weshalb man sie der Schule verwies. Unter Grummeln und Knurren erklärte Elias Spiegelgold sich bereit, einen Hauslehrer für sie anzustellen. Seitdem verbrachte Apolonia friedliche Stunden zu Hause, in denen sie Herrn Klöppels facettenreichen Schnarchgeräuschen lauschte. Der Lehrer musste vor mehr als zwanzig Jahren offiziell pensioniert worden sein. Apolonia vermutete allerdings, dass er selbst zu Zeiten seiner geistigen Blüte kaum fähig gewesen wäre, ihr etwas beizubringen.
Und das alles musste Apolonia wegen jenes verhängnisvollen Tages ertragen, an dem das Feuer ihr Glück verschlungen hatte! Sie war gedemütigt und vernachlässigt worden. Und noch dazu war sie vollkommen alleine. Sogar ihr Vater hatte sich davongemacht und ihr an seiner statt ein dreijähriges Kind im Körper eines Vierzigjährigen hinterlassen. Immer mehr spürte Apolonia, wie sie ihn zu hassen begann. Wie konnte er so verantwortungslos sein, einfach verrückt zu werden - schließlich hatte er eine Tochter! Was war mit ihr ? Wer kümmerte sich darum, dass sie glücklich war?
Aber Apolonia wusste, dass ihn nicht nur der Schock in den Wahnsinn getrieben hatte. Nein. Hier waren noch andere Mächte im Spiel.
Sie wischte sich mürrisch eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und begann, nach ihrem Vater zu suchen. Das Haus ihres Onkels war groß, es gab vier Stockwerke und mehr als zwanzig Zimmer. Bittere Tränen stiegen in ihre Augen, als sie in die Richtung aufbrach, in die ihr Vater gehüpft war.
»Vater«, rief sie streng. »Vater! Komm raus!«
Sie ballte die Hand zur Faust. Die, die ihr das alles angetan hatten, würden bezahlen.
Inspektor Bassar
M öchten Sie noch ein Stück Zucker in Ihren Tee, Herr Inspektor?« Das dunkelhaarige Mädchen nahm eine goldene Zuckerzange, hob einen Würfel aus der Porzellandose und ließ ihn in Bassars Tasse fallen. Der Zucker schlug mit einem zarten Klirren gegen den Boden der zierlichen Tasse und es war für einen Moment das einzige Geräusch. Dann war eine weitere Minute verstrichen und die große Wanduhr gab ein Ticken von sich.
»Danke«, sagte Bassar und führte die dampfende Tasse an die Lippen. Er fühlte sich, als würde er aus Puppengeschirr trinken.
»Verflucht.« Heißer Tee tröpfelte ihm auf den Schoß. Hastig stellte er die Tasse ab. »Ich meine, Verzeihung.«
Das Mädchen zeigte keine Regung. Ihr Vater hingegen lachte quietschend auf. Bassar war nicht sicher, wer von beiden ihn mehr beunruhigte.
»Wir … mein Vater und ich, wir freuen uns sehr über Ihren Besuch, Herr Inspektor«, begann das Mädchen. Trotz ihres sachlichen Tons bot sie einen kummervollen Anblick, wie sie so in ihrem schwarzen Trauerkleid dasaß, die Hände gefaltet und die schmalen Schultern gestrafft. Gleichzeitig zeugten
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