Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
her-«
Das Dienstmädchen kreischte auf und wies aus dem Fenster.
Alle beugten sich wieder hinaus. Der Innenhof lag menschenleer wie der Grund des Ozeans unter ihnen. Aber am Tor - huschte eine Gestalt in den fahlen Lichtschein der Laterne. Die Doggen begannen zu winseln.
»Das ist … unmöglich …« Professor Ferol kniff die Augen zweimal zu. Aber es bestand kein Zweifel. Der Junge, der gefallen war, der Junge, der tot sein musste, kletterte leichtfüßig
an den Eisenstangen empor, stand einen Augenblick lang geduckt auf den Torspitzen und sprang auf die Straße. Er landete auf Händen und Knien und rannte davon.
Vampa hinkte. Beim Aufprall waren die Bodenplatten zersplittert und ein spitzes Steinstück hatte sich in sein Knie gebohrt. Seine Rippen waren zerschmettert. Sein linkes Schlüsselbein, sein Oberarm, das rechte Schienbein und die meisten seiner Finger waren gebrochen. Doch jeder Schritt entfernte ihn weiter vom Schmerz.
Das Buch war fast unversehrt, lediglich ein paar Seiten in der Mitte waren zerknittert und Blutflecken verdunkelten den Einband.
Die Straßen waren wie ausgestorben. Manchmal hörte er das Rollen einer Kutsche und klappernde Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und ab und zu das laute Brummen eines Automobils. Dann änderte er die Richtung und lief fort, bis die Geräusche verebbten. Die Straßenlaternen setzten dottergelbes Licht in die Nacht und Vampa machte einen weiten Bogen um sie. Als er den Fluss erreichte und ein Stück am Park vorbeikam, schien alles noch viel einsamer. Nur die sanften Wellen murmelten, und die Falter umschwirrten die Gaslampen, dass ein feines Knistern und Surren in der Luft hing. Manche von ihnen kamen zu nahe an die Flammen heran, sodass hier einer, da einer mit zuckenden Fühlern und rauchenden Flügeln zu Boden schwebte.
Vampa schleppte sich über eine breite Brücke. Am liebsten wäre er zusammengesunken und hätte das Buch aufgeschlagen - oder wenigstens stehen geblieben, um das Buch anzusehen -, aber das ging nicht. Nicht solange er hier draußen war.
Anstatt dem Gassenlabyrinth vor ihm zu folgen, stieg er das steinige Ufer hinab zum Fluss, den der Mond wie ein fließendes Seidenband durch die Stadt ziehen ließ.
Eine Weile folgte er dem Wasser. Bald mischte sich ein fauliger Gestank in die Luft, denn in der Nähe waren Abflussrohre. Vampa war den Geruch gewöhnt und empfand ihn fast wie eine Begrüßung. Er kam zu einem Kanalschacht, der neben den Rohren in die Mauer eingelassen war; Ratten tummelten sich im Dunkel und flohen, als er näher kam. Er musste sich an den Rohren vorbeizwängen und durch einen Vorhang herabtröpfelnden Wassers treten, dann war er in einem niedrigen Betonviereck angekommen und hörte lautes Rauschen. An der hintersten Wand war eine Leiter, die durch ein Loch in die Tiefe führte. Trotz der Dunkelheit fand Vampa sie problemlos und stieg hinab, das Buch an die Brust gedrückt.
Hier war alles rabenschwarz. Er ließ die Leiter los und tastete sich um eine Ecke. Das Brausen der Abflussrohre klang nun gedämpft. Auch der Gestank war halbwegs verflogen, es roch nur noch feucht und ein bisschen schimmelig.
Endlich fand Vampa die Streichhölzer und zündete eins an. Der Schacht füllte sich mit hüpfenden Schatten. Dann entfachte er eine Petroleumlampe und pustete das Hölzchen aus. Die Schatten beruhigten sich und gleichmäßiges, traniges Gelb ließ sich auf allem nieder.
Der Raum - wenn man diesen Unterschlupf so nennen konnte - wurde von einer zerfledderten Matratze eingenommen, einem Haufen brauner Armeedecken, einer Obstkiste, die als Tischchen diente, und Büchern.
Es waren unzählige Bücher. Sie lagen überall, bepflasterten den schmuddeligen Boden, türmten sich an den Wänden auf, dass man die fleckigen Wasserschatten dahinter nicht mehr sehen konnte, stapelten sich auf der Matratze und der Holzkiste und waren über die Decken verstreut. Es waren Taschenbücher, deren roter Umschlag abgewetzt und feucht geworden war, aber auch schwere Folianten, gebunden in rotes Leinen oder in Leder mit geheimnisvollen Prägungen, deren
Seiten so vergilbt waren, dass sie aussahen wie aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Wasser, das von der Decke herabtröpfelte und Adern auf die Wände malte, durchnässte die Bücher, weichte das Papier auf und machte die Einbände morsch. Auch der Schimmel hatte vor Tinte und Dichtkunst keinen Halt gemacht.
Nur über der Matratze war ein kleiner Fleck buchfrei geblieben: Hier war
Weitere Kostenlose Bücher