Nur die Küsse zählen
„Erzählst du das den Leuten über mich?“ Sie verzog das Gesicht. „Ich habe dich immer nur geliebt. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Mein einziges Kind. Und das ist der Dank dafür?“
Wie jedes Mal konnte Aurelia der Argumentationskette nicht ganz folgen. Sie war sich nur sicher, dass sie es vermasselt hatte – das tat sie immer. Egal, was sie machte, sie war eine ständige Enttäuschung. Genau wie ihr Vater, der seine Frau und seine Tochter verlassen hatte.
Aurelia wusste nicht, ob ihre Mutter schon vor seinem Weggang ein professionelles Opfer gewesen war. Danach hatte sie es in der Abteilung „Ich Arme“ definitiv ganz an die Spitze gebracht.
„Sieh dich nur an“, fuhr ihre Mutter fort und zeigte auf Aurelias langes glattes Haar. „Wie siehst du nur aus? Meinst du, so findest du einen Mann? Die sehen dich nicht einmal. Das hier ist Fool’s Gold. Hier gibt es nicht viele Männer. Du musst dich schon mehr anstrengen, wenn du auch einen abbekommen willst.“
Harsche Worte, die leider wahr sind, dachte Aurelia. Sie bewegte sich wie in einer Blase durch die Welt. Sie erledigte ihre Arbeit, ging mit ihren Kolleginnen in die Mittagspause, war für jeden Mann unsichtbar, inklusive des Geschäftsführers. Seitbeinah zwei Jahren arbeitete sie dort – und er hatte immer noch Probleme, sich ihren Namen zu merken.
„Ich will Enkelkinder“, erklärte ihre Mutter. „Ich bitte wirklich selten um etwas, aber erfüllst du mir diesen einen Wunsch? Natürlich nicht.“
„Ich versuche es, Mama.“
„Du strengst dich nicht genügend an. Den ganzen Tag bist du mit Geschäftsleuten zusammen. Lächle sie doch mal an! Flirte ein wenig! Weißt du überhaupt, wie das geht? In jedem Fall solltest du dich besser kleiden. Du könntest auch ein paar Kilo abnehmen. Ich habe dich nicht durchs College gebracht, damit du den Rest deines Lebens allein verbringst.“
Aurelia schloss die Geschirrspülmaschine und wischte die Arbeitsflächen ab. Tatsächlich hatte ihre Mutter keinen Cent für ihre Collegeausbildung gezahlt. Aurelia hatte mehrere kleine Stipendien erhalten und nebenbei gearbeitet, um sich den Lebensunterhalt zu finanzieren. Allerdings hatte sie während der Zeit mietfrei zu Hause gewohnt, das zählte auch als Unterstützung. Ihre Mutter hatte recht. Sie sollte wirklich etwas dankbarer sein.
„Du wirst bald dreißig“, fuhr ihre Mutter fort. „Dreißig. Das ist alt. Als ich in dem Alter war, warst du fünf, und dein Vater war schon vier Jahre weg. Hatte ich die Zeit, jung zu sein? Nein. Ich hatte Verantwortung. Ich hatte zwei Jobs. Habe ich mich beschwert? Nein. Dir hat es an nichts gefehlt.“
„Du warst sehr gut zu mir, Mama“, erwiderte Aurelia pflichtbewusst. „Und bist es immer noch.“
„Natürlich bin ich das. Ich bin deine Mutter. Du musst dich um mich kümmern.“
Was sie seit ein paar Jahren tat. Aurelia hatte ihren Abschluss gemacht, ihre erste Anstellung erhalten und war ausgezogen. Ungefähr ein Jahr später hatte ihre Mutter eine Bemerkung fallen lassen, dass es mit dem Geld ein wenig knapp sei, und gefragt, ob sie ihr unter die Arme greifen könne. Erst waren es ein paar Dollars hier und da gewesen, inzwischen kam Aurelia fast für den gesamten Lebensunterhalt ihrer Mutter auf.
Als Buchhalterin verdiente sie zwar nicht schlecht. Nach Abzug von zwei Mieten inklusive Nebenkosten und sämtlichen Lebensmitteln für sie beide blieb am Ende aber nicht viel übrig.
Andere Eltern waren stolz auf den Erfolg ihrer Kinder. Nicht so ihre Mutter. Sie beschwerte sich, dass Aurelia sich nicht gut um sie kümmerte. In diesem Haushalt bedeutete Kind zu sein, eine Schuld mit sich herumzutragen, die von Jahr zu Jahr wuchs.
Traurig blickte Aurelia aus dem Küchenfenster in den Garten. Anstatt der Beete sah sie einen riesigen Bilanzausdruck mit lauter roten Zahlen vor sich. Der beinah physische Beweis, dass sie für immer hier gefangen wäre.
So sollte es nicht sein, dachte sie. Sie hatte immer davon geträumt, jemand Besonderen kennenzulernen und sich zu verlieben. Sie wollte einfach nur zu jemandem gehören, ohne das Gefühl zu haben, ständig dafür bezahlen zu müssen.
Ein unmöglicher Traum, ermahnte sie sich. Weder war sie besonders hübsch noch interessant. Sie war eine Buchhalterin, die ihre Arbeit tatsächlich liebte. Sie ging nicht in Clubs oder Bars … Und sollte sie jemals von einem Mann angesprochen werden, wüsste sie gar nicht, was sie antworten sollte.
„Solltest du
Weitere Kostenlose Bücher