Nur ein Gerücht
1
A ls Oskar mich kommen sah, hob er den Kopf, nur um ihn gleich darauf wieder zu senken. »He, du Faulpelz«, rief ich, »steh auf!«
Anstatt sich zu rühren, schenkte er mir einen Blick, der mich fast schwankend werden ließ.
Mit in die Hüften gestemmten Händen blieb ich vor ihm stehen und sah auf ihn herab. »Na los! Gib dir einen Ruck. Selbst Morgenmuffel fallen nicht gleich tot um, wenn sie ausnahmsweise mal um fünf Uhr aufstehen. Heute ist ein Festtag, und der muss würdig begangen werden!«
Was mich eine Stunde früher als sonst aus dem Bett getrieben hatte, ließ Oskar nur müde gähnen.
»Dann muss es eben auf die harte Tour gehen!« Ich griff nach seinem Halfter und zog so lange daran, bis er sich bequemte, seine Vorderbeine aufzusetzen. Im Zeitlupentempo folgten die Hinterbeine, dann ein Schütteln und schließlich ein unwilliges Schnauben. Während ich ihn Richtung Gatter hinter mir her zog, dachte ich an jenen Tag, der genau fünf Jahre zurücklag. Damals hatte ich den Bungehof eröffnet, einen Reiter- und Pferdehof, wie ich ihn mir schon lange erträumt hatte. Meine Ersparnisse und die Erbschaft von meiner Großmutter hatten gerade gereicht, um sieben Schulpferde zu kaufen und den Hof von Hans Pattberg zu pachten, der sich im Alter von dreiundsiebzig Jahren für den Ruhestand entschieden hatte. Zugegeben, der Hof, zwischen Behrensdorf und Hohwacht in der Holsteinischen Schweiz gelegen, war nicht in allerbestem Zustand, als ich ihn übernahm, aber er hatte alles, was ich brauchte: Stallgebäude, Reithalle, Viereck, einen Freilauf und genügend Weideland. Und: Meeresnähe. Nach dem Geruch von Pferden war der des Meeres mir schon immer am liebsten gewesen.
Zu den Schulpferden hatten sich nach und nach so viele Pensionspferde gesellt, dass die restlichen dreißig Boxen belegt waren. So war es mir allen Anfangsschwierigkeiten zum Trotz gelungen, mit meinem Traumprojekt auf eigenen Beinen zu stehen. Der Bungehof konnte mich ernähren, und mehr brauchte ich nicht. Große Sprünge interessierten mich ohnehin nur, wenn ich auf dem Rücken eines Pferdes saß - vorzugsweise auf dem von Oskar, meinem dunkelbraunen Hannoveraner mit den drei weißen Fesseln und der verwegenen Blesse. Es gab Menschen, die meinten, diese Blesse könne man sich beim besten Willen nicht schönreden. Sie sehe aus, als sei ein Farbeimer ausgelaufen. Aber das waren Menschen, die nach Perfektion strebten, denen ein Makel den Blick für das Wesentliche verstellte.
Oskar war durch mehrere Hände gegangen, bevor er vor acht Jahren gegen seinen Willen in mein Leben trat. Mitarbeiter eines Tierschutzvereins hatten ihn in völlig verwahrlostem Zustand aus der Gewalt seines früheren Besitzers befreit und an mich weitergegeben. Es hatte mich sehr viel Geduld und noch mehr Blutergüsse gekostet, bis Oskar aufhörte, mich zu beißen oder nach mir auszuschlagen. Als er mir endlich vertraute, war ein halbes Jahr vergangen und wir schlossen Freundschaft. Bis es soweit war, hatte mich mehr als einmal eine tiefe Hoffnungslosigkeit befallen. Nur ein vages Gefühl von Verbundenheit mit einer verwundeten Seele hatte mich davon abgehalten aufzugeben.
Am Gatter sattelte ich Oskar, zog ihm das Zaumzeug über den Kopf und saß auf. Zur Feier des Tages wollte ich am Strand der Hohwachter Bucht entlanggaloppieren - wohl wissend, dass ich damit ein Verbot missachtete. Zwar würde sich um diese Uhrzeit kaum ein Badegast, der sich durch Oskar gestört fühlen könnte, an den Strand verirren, trotzdem hatte ich Herzklopfen. Unangenehm aufzufallen war mir ein Graus, und normalerweise tat ich alles, um es zu vermeiden.
Ich hielt meine Nase in den Wind und atmete die salzige Luft ein, in die sich der Duft der gerade erst erblühten Rapsfelder mischte. Mein Blick schweifte über diese Landschaft, die es mir so sehr angetan und mich nie losgelassen hatte. Diese Landschaft, die so reich ist an Wasser, Wäldern und Weiden, die einem vorgaukelt, sie ziehe sich endlos dahin.
Als ich wir fünf Jahren aus München zurückkehrte, war es mir so vorgekommen, als sei meine Zeit im Exil beendet. Fernab von meinen Wurzeln zu leben war wie ein Stachel gewesen, der sich dicht unter der Haut einnistete und einen beständigen Schmerz verursachte. Dieser Schmerz war an dem Tag verschwunden, als ich den Pachtvertrag mit Hans Pattberg unterschrieben hatte. Das Glücksgefühl, das diese Unterschrift bei mir auslöste, hatte auch die Tatsache nicht trüben können, dass mein
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