Ödland - Thriller
ihnen jeglicher Funkkontakt untersagt.
Die leere und schnurgerade Autobahn erstreckt sich vor ihm bis zum Horizont - zumindest so weit, wie er überhaupt etwas durch die Wassermassen auf seiner Windschutzscheibe erkennen kann. Und in der Tat, es »bläst verdammt heftig«. Meterhohe, vom Orkan getriebene und von einer Springflut noch verstärkte Wellen brechen sich mit monströsen Schaumfontänen an der Böschung des seit dem ersten Deltaplan immerhin um zehn Meter erhöhten Dammes, branden in schlammigen Strömen über die Fahrbahn und reißen tonnenweise Erde und Ton mit sich, die sich ins Ijsselmeer ergießen. Auch das Binnenmeer wird von einer bösartigen, braunschaumigen Dünung bewegt, auf der abgerissene Algen und tote Fische und Vögel treiben. Der Himmel ist ein unglaubliches Chaos angeschwollener, tiefvioletter Wolken, die im Dämmerlicht noch bedrohlicher wirken. Die Wasserfurie wütet überall; wie zerbrechlich wirkt die schmale Zunge aus Sand, Stein und Beton, die sich mitten in den Tumult hinein erstreckt!
Starr vor Angst klammert der Fahrer sich ans Lenkrad seines Lkw, den er, so gut mächtige Sturmböen und Aquaplaning es eben zulassen, in der Spur zu halten versucht. Jetzt fehlt nur noch, dass er vor dem Erreichen des Ziels einen Unfall baut! Ein kurzer Blick auf das Entfernungsradar zeigt ihm, dass sein Kollege trotz des unfreiwilligen Schleuderkurses, den auch er über sich ergehen lassen muss, einen Abstand von 350 Metern einhält. Gut so. Der Fahrer beschleunigt weiter. 130 ... 140 ... Der Tachometer ist zwar frisiert, trotzdem fangen die Lämpchen auf dem Armaturenbrett an zu blinken, und ein schriller Alarm ertönt. Er kappt den Kontakt. Jetzt hört man nichts anderes mehr als das Sirren des Wasserstoffmotors, erstickt vom Zorn Gottes, der rings um den Lkw wütet. Noch einmal betet der Fahrer zum allmächtigen Herrn und denkt dabei daran, wie schön es wäre, wenn der Allerhöchste selbst den Reinigungsauftrag zu Ende bringen könnte, für den man ihn ausersehen hat. Doch wirklich damit rechnen kann er nicht; seit hundert Jahren schon hält der alte Abschlussdamm den immer stärker werdenden Stürmen tapfer stand. Mochten die Holländer ein noch so lasterhaftes und vom Geist des Bösen verdorbenes Volk sein - solide bauen konnten sie!
150 Stundenkilometer. Schneller ginge es jetzt wirklich nicht mehr, sonst würde ihn der Sturm von der Fahrbahn katapultieren. Doch die Geschwindigkeit dürfte ausreichen. Er durchfährt die Aufschüttung Breezanddijk mit der im Meerwasser versunkenen Tankstellenruine, den ehemaligen Parkplätzen und Häusern. Das Ziel liegt nun noch acht Kilometer entfernt. Der Fahrer hofft, dass die Polizisten am Autobahnkreuz sich nicht inzwischen mit Groningen oder Den Helder in Verbindung gesetzt haben und dass nicht längst ein paar Abfangjäger unterwegs sind, um die Tanklaster zu bombardieren. Doch nein, das ist unmöglich - bei so viel entfesselter Naturgewalt kann sich kein Flugzeug in der Luft halten. Wieder wirft er einen Blick auf den Radarschirm. Sein Kollege folgt ihm nach wie vor in einem Abstand von 350 Metern. Auch er wird wie ein Spielball über die Fahrbahn geschleudert und arbeitet sich durch Wolken aus Schaum wie ein metallener Wal. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, gib uns die Kraft, unsere göttliche Mission zu erfüllen, schenke meiner armen, sündigen Seele die ewige Glückseligkeit ... Oh, mein Gott, was für eine entsetzliche Welle! Sie wird uns fortreißen! Wir werden es nicht schaffen, hilf Himmel! Aber nein, sie schwappt vorbei, sie schwappt wirklich vorbei, halleluja! Gott ist mit uns. Ehre sei Gott und dem heiligen Amerika!
Das Ziel kommt in Sicht. Als der Regen für Sekunden ein wenig nachlässt, erkennt der Fahrer den zylindrischen Turm des Denkmals, das zu Ehren der Erbauer genau an der Stelle errichtet wurde, wo der Damm am 28. Mai 1932 geschlossen worden war. Beide Fahrer haben die Geschichte des Abschlussdamms auswendig lernen müssen. Letzter Blick auf den Radarschirm - der Kollege ist immer noch da, in 370 Metern Entfernung. Gib Gas, Junge! Du kannst jetzt nicht mehr kneifen! Gott ist mit uns. Er wird uns in seine ewige Glückseligkeit aufnehmen. Das Paradies erwartet uns!
Der Tanklastzug fährt mit voller Geschwindigkeit in die Ausfahrt, die die Böschung hoch zu einem Parkplatz und den fünf Betonzylindern führt, auf denen die Geschichte des Damms erzählt wird. Zwei sind nicht mehr da, die Wellen haben
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