Ohne ein Wort
Vergangenheit besaß.
Auf Bitte der Deadline -Redaktion hatte Cynthia zwei alte Schuhschachteln mitgebracht, in denen sie allerlei Erinnerungsstücke an ihr früheres Leben aufbewahrte. Zeitungsausschnitte, verblichene Polaroidbilder, Klassenfotos, Zeugnisse, alle möglichen Dinge, die sie damals von zu Hause mitgenommen hatte, als sie zu ihrer Tante Tess gezogen war. Tess Berman, der Schwester ihrer Mutter.
Sie setzten Cynthia an den Küchentisch. Vor ihr standen die geöffneten Schuhschachteln, aus denen sie nun ihre Erinnerungsstücke nahm, eins nach dem anderen, und sie langsam vor sich ausbreitete, wie ein Puzzle, als würde sie nach den Teilen mit geraden Kanten suchen, als wolle sie sich vom Rand des Bilds zur Mitte vorarbeiten.
Aber es gab keine Rahmenteile in Cynthias Schuhschachteln. Es gab keine Möglichkeit, sich langsam auf die Mitte zuzuarbeiten. Es war, als hätte sie ein paar Dutzend Teile von tausend verschiedenen Puzzles.
»Das sind wir«, sagte sie und hielt ein Foto hoch.
»Beim Campingurlaub in Vermont.« Die Kamera zoomte auf Todds Strubbelkopf und Cynthia; sie standen links und rechts neben ihrer Mutter vor einem Zelt. Cynthia war etwa fünf, ihr Bruder um die sieben Jahre alt. Ihre Gesichter waren mit Erde verschmiert, und ihre Mutter – das Haar mit einem rotweiß gemusterten Tuch zusammengebunden – lächelte stolz in die Kamera.
»Von meinem Vater habe ich keine Bilder«, sagte Cynthia niedergedrückt. »Er hat ja immer die Fotos von uns gemacht. Aber ich kann ihn genau vor mir sehen, groß und breitschultrig, mit dem Filzhut, den erimmer trug, und dem schmalen Oberlippenbart. Gut sah er aus, richtig gut. Und Todd war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Sie griff nach einem vergilbten Zeitungsausschnitt. »Hier«, sagte sie, während sie das Stück Papier vorsichtig auseinanderfaltete. »Das habe ich im Schreibtisch meines Vaters gefunden.« Erneut rückte der Kameramann näher, um den Zeitungsausschnitt zu zeigen. Es handelte sich um ein verblichenes, grobkörniges Schwarzweißbild, auf dem eine Schülermannschaft zu sehen war. Ein Dutzend Jungs blickte in die Kamera; einige lächelten, ein paar zogen Grimassen. »Dad hat das Bild wohl aufbewahrt, weil Todd mit drauf ist, auch wenn sie seinen Namen unter dem Foto vergessen haben. Dad war wirklich stolz auf uns. Manchmal sagte er im Scherz, wir wären die beste Familie, die er je hatte.«
Rolly Carruthers, der Direktor meiner Schule, wurde ebenfalls interviewt.
»Die Sache ist mir ein echtes Rätsel«, sagte er. »Ich kannte Clayton Bigge. Wir waren ein paarmal zusammen angeln. Ich fand ihn sehr sympathisch. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte. Vielleicht sind sie in die Fänge einer Art Manson-Family geraten, die sich auf Mordtour quer durchs Land befand.«
Sie interviewten auch Cynthias Tante Tess.
»Ich habe meine Schwester, meinen Schwager und meinen Neffen verloren, aber für Cynthia war es ein noch größerer Verlust. Sie hat unendlich viel durchgemacht, ihr Schicksal aber wirklich bravourös bewältigt.«
Doch obwohl die Macher der Sendung ihr Versprechen hielten und die skeptischen Äußerungen des alten Mannes, der nun im ehemaligen Haus der Bigges lebte, nicht ausstrahlten, hatten sie noch jemanden in petto, der ebenfalls nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg hielt.
Cynthia starrte wie das Kaninchen auf die Schlange, als der Beitrag ein paar Wochen später ausgestrahlt wurde und plötzlich der Ermittlungsbeamte auf dem Bildschirm erschien, der sie damals befragt hatte. Er war inzwischen pensioniert und lebte in Arizona. Unter seinem Konterfei waren die Worte »Bartholomew Finlay, Detective i. R.« eingeblendet. Er hatte die Ermittlungen geleitet, den Fall nach einem Jahr jedoch zu den Akten gelegt. Die Leute vom Sender hatten ihn in Phoenix interviewt, vor einem in der Sonne gleißenden Airstream-Wohnmobil.
»Also, ich habe mich jedenfalls immer wieder gefragt, wieso die Tochter überlebt hat. Vorausgesetzt natürlich, dass ihre Eltern und ihr Bruder tatsächlich tot sind. Die Version, dass eine Familie sich auf und davon macht und die Tochter zurücklässt, hat mir noch nie eingeleuchtet. Okay, die Kleine war schwierig und hatte Stress mit ihren Eltern. Aber ein für alle Mal verschwinden, nur um das schwarze Schaf der Familie loszuwerden? Das ist doch grotesk. Was wiederum bedeutet, dass jemand ein falsches Spiel getrieben hat. Und damit wären wir wieder bei meiner
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