Im Schatten des Kreml
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Ein Mann wie ich darf keine Zweifel haben. Vor allem nicht zu einem Zeitpunkt wie diesem, wenn man im offenen Rumpf eines Mi-24-Kampfhubschraubers balanciert und einen schrägen Bogen um ein schwarzes Viereck im Raster der Lichter von Moskaus Süden beschreibt. Das ist der schlechteste Zeitpunkt, um sich Fragen zu stellen, die niemand beantworten kann. Aber in letzter Zeit sind sie dauernd da und nagen an allem, woran ich einmal geglaubt habe. Das Vaterland verteidigen, die südliche Flanke sichern, die Unschuldigen beschützen. Ich greife nach einem Leinenriemen, um mich gegen die Kurve zu stemmen, und flüstere die Worte wie ein Mantra vor mich hin.
Das AMERCO-Gebäude taucht aus der Dunkelheit auf, eine feuerrote offene Wunde klafft mitten in seiner Frontseite. Chemisch rosa gefärbte Rauchringe leuchten vor dem nächtlichen Himmel, als der Hubschrauber herabschießt und zu einer harten Landung ansetzt. Ich hechte hinaus, während die Rotoren in einem ausklingenden Backbeat-Rhythmus die Luft durchschlagen.
Ein Polizist springt mir vor die Füße. Er brüllt etwas von tschetschenischen Terroristen. Die Explosion sei vor weniger als einer Stunde passiert, schreit er, aber das und noch mehr weiß ich bereits. Ich kreise ungeduldig mit dem Finger in der Luft, bis der Polizist in Richtung einer improvisierten Kommandozentrale zeigt. Ich laufe auf die brennende Skyline zu und denke, er hätte sagen sollen, dass die erste Explosion weniger als eine Stunde her ist. Es ist gut möglich, dass weitere folgen, denn mindestens zwei der Terroristen sind noch am Leben.
Ich bin hier, um das zu ändern.
Die Anweisungen des Generals, die er mir über ein verschlüsseltes Satellitentelefon erteilt hat, hallen in meinem Kopf wider. Zögere nicht. Verhandle nicht. Greif an. Tote Geiseln, zerstörtes Eigentum – was immer es kostet, es ist weniger als der Preis der Kapitulation. Anweisungen, die den schlechten Erfahrungen aus einem Schattenkrieg gegen einen gesichtslosen Feind entspringen. Anweisungen, die mir den Luxus eines Zweifels nicht erlauben.
Ich komme in Sichtweite der zerstörten Hälfte des sechsten Stocks in der Moskauer Zentrale einer amerikanischen Ölgesellschaft. Die Südseite klafft auseinander wie ein schreiender, Qualm ausspeiender Mund, die gekrümmten Stahlträger und Metallbolzen darin einer Zunge gleich. Von hier aus sieht der Schaden schlimmer aus als vom Hubschrauber.
Ich laufe jetzt schneller, vorbei an einer Sammelstelle für Tote und Verwundete, etwa hundert Meter entfernt von der Zone, in die Schüsse vom Gebäude aus reichen könnten. Vielen der Verwundeten fehlen Körperteile. Gliedmaße, Augen und, im Falle eines schreienden Jungen, ein Teil des Kiefers. Bei jedem Schritt spüre ich, wie sich Nägel in meinen linken Fuß bohren – den Fuß, der nicht da ist. Ein Phantomschmerz, der daher rührt, dass ich meinen alten Widersachern so nah bin und eine Welt des Grauens betrete, in der ich weiß, was mich erwartet.
Der Millenniums-Bombenanschlag am Moskauer Puschkin-Platz hat dreizehn Tote gefordert, bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater waren es hundertdreißig – dies sind nur zwei von vielen Ereignissen, an die zu denken ich kaum ertrage. Das Schlimmste war für mich das Massaker an der Schule in Beslan, wo dreihundertvierundvierzig Menschen starben, darunter hundertsechsundachtzig Kinder. Die Urheber vieler dieser Anschläge sind tot. Manche starben bei Einsätzen, an die die inoffiziellen Ehrenmedaillen erinnern, die ich in eine Zigarrenkiste geworfen habe. Aber dafür haben andere ihren Platz eingenommen.
Die improvisierte Kommandozentrale wurde im Erdgeschoss eines Bürogebäudes drei Blocks weiter eingerichtet. Ich überquere eine breite Straße, die für den Verkehr gesperrt ist. Reiße eine Stahlglastür auf. Eine kleine Gruppe, die um einen zusammenklappbaren Metalltisch gedrängt sitzt, dreht sich zu mir um und starrt mich an.
»Wer hat hier das Kommando?« Selbst mir kommt meine Stimme laut vor.
»Wer will das wissen?« Groß, dünn, bebrillt: Der, der mir antwortet, sieht aus wie ein hochmütiger Professor, allerdings zu jung, um tatsächlich einer zu sein. Solche Typen erkenne ich auf den ersten Blick. Von Geburt an privilegiert durch die Stellung der Familie im alten sowjetischen System. Uniform und rotes Barett weisen ihn als Offizier der Spezialeinheiten der inneren Truppen des FSB aus – dem Hauptnachfolger des KGB aber jemanden wie ihn findet man überall in
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