Ohne ein Wort
diversenanderen Tricks verfremden würden, um die Geschichte ein wenig spannender zu gestalten – eine Story, die Fernsehredakteure früherer Jahrzehnte ganz sicher auch so dramatisch genug gefunden hätten.
Dann ging es nach oben in Cynthias altes Zimmer. Sie wirkte wie gelähmt. Sie wollten aufnehmen, wie sie das Zimmer betrat, aber aus zwei verschiedenen Perspektiven. Beim ersten Mal wartete der Kameramann hinter der geschlossenen Zimmertür, beim zweiten Take filmten sie Cynthia vom Flur aus, die Kamera über ihre Schulter gerichtet. Als der Beitrag gesendet wurde, sah ich, dass sie ein Fischaugenobjektiv verwendet hatten, um der Szene einen unheimlichen Touch zu verleihen, etwa so, als würde Jason aus »Freitag der 13 .« mit seiner Eishockeymaske hinter der Tür warten.
Paula Malloy, die als Wetterfee angefangen hatte, wurde frisch geschminkt und frisiert. Dann stattete eine Assistentin sie und Cynthia mit Sendern und kleinen Mikros aus, die an ihren Kragen befestigt wurden. Paula stieß Cynthia sacht mit der Schulter an, als seien sie alte Freundinnen, die sich gemeinsam an nicht ganz so gute Zeiten erinnerten.
Als sie bei laufenden Kameras die Küche betraten, fragte Paula: »Was ist Ihnen damals durch den Kopf gegangen?« Cynthia bewegte sich wie in Trance. »Totenstille im ganzen Haus – und dann kommen Sie in die Küche und niemand ist da.«
»Ich wusste ja nicht, was los war«, sagte Cynthia leise. »Ich dachte, alle wären vor mir aus dem Haus gegangen. Ich dachte, mein Vater sei zur Arbeit gefahren. Und dass meine Mutter meinen Bruder zur Schulebringen würde. Ich dachte, sie wären sauer auf mich, weil ich mich am Abend zuvor ziemlich danebenbenommen hatte.«
»Waren Sie ein schwieriger Teenager?«, fragte Paula.
»Nun ja … manchmal. Am Abend zuvor hatte ich mich mit einem Jungen getroffen, der meinen Eltern ein Dorn im Auge war, und auch einiges getrunken. Aber so schlimm war ich nun auch wieder nicht. Ich habe meine Eltern geliebt, und ich glaube …« – einen Augenblick lang drohte ihr die Stimme zu versagen – »… sie mich auch.«
»Sie haben damals ausgesagt, Sie hätten Streit mit Ihren Eltern gehabt.«
»Ja«, sagte Cynthia. »Weil ich nicht rechtzeitig nach Hause gekommen bin und sie belogen habe. Und manchmal habe ich ihnen auch ziemlich unschöne Dinge an den Kopf geworfen.«
»Zum Beispiel?«
»Oh.« Cynthia zögerte einen Moment. »Was man halt so sagt. Kinder sagen manchmal eben Dinge, die sie eigentlich gar nicht so meinen.«
»Und was glauben Sie, wo sich Ihre Eltern und Ihr Bruder heute befinden – fünfundzwanzig Jahre später?«
Traurig schüttelte Cynthia den Kopf. »Das frage ich mich ja selbst. Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht darüber den Kopf zerbreche.«
»Falls Ihre Eltern und Ihr Bruder noch leben sollten, was würden Sie ihnen, hier bei Deadline , jetzt sagen wollen?«
Verlegen und irgendwie hoffnungslos sah Cynthia aus dem Küchenfenster.
»Blicken Sie in die Kamera«, sagte Paula Malloy und legte einen Arm um Cynthias Schultern. Ich musste mich mit aller Macht zusammennehmen, sonst wäre ich ins Bild geplatzt, um Paula die aalglatte Maske herunterzureißen. »Fragen Sie einfach, was Sie all die Jahre fragen wollten.«
Cynthias Augen schimmerten feucht, als sie in die Kamera sah. Zuerst brachte sie nur ein Wort heraus: »Warum?«
Paula schwieg, um den Augenblick wirken zu lassen, und hakte dann nach. »Warum was, Cynthia?«
»Warum«, wiederholte Cynthia, während sie sichtlich um Fassung rang, »habt ihr mich allein gelassen? Wenn ihr noch leben solltet, warum habt ihr euch nie gemeldet? Warum habt ihr mir nicht mal eine kleine Nachricht hinterlassen? Warum habt ihr euch nicht wenigstens von mir verabschiedet?«
Ich konnte die Spannung um mich herum genau spüren. Es war, als hätte das gesamte Fernsehteam den Atem angehalten. Ich wusste, was ihnen durch den Kopf ging. Das hier war Einschaltquote pur, Fernsehen vom Allerfeinsten. Ich hasste sie dafür, dass sie Cynthias Unglück für Unterhaltungszwecke ausbeuteten, eben weil es für sie nichts als bloße Unterhaltung war. Aber ich hielt meine Zunge im Zaum, weil Cynthia sich garantiert ebenso bewusst war, dass sie missbraucht wurde, dass sie nur eine weitere Story war, mit der die nächste halbstündige Folge der Sendung gefüllt wurde. Sie war bereit, sich dafür einspannen zu lassen – in der Hoffnung, dass sich vielleicht jemand melden würde, der den Schlüssel zu ihrer
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