Olga & Lust und Leid
Nacht, als mein Bewusstsein zurückkehrte. Ich wusste nicht, wie lange ich so gelegen hatte. Waren nur Stunden oder gar ein Tag vergangen? Die Kämpfe hatten sich noch weiter in Richtung Jekaterinburg verlagert. Aus der entfernten Stadt hörte ich Geschrei, Angriffsgebrüll und Gewehrsalven. Noch immer wurde hart um die Stadt gerungen. Aber die Front lag nun hinter mir.
Der Körper war noch sehr schwach. Trotzdem erhob ich mich vorsichtig und trottete benommen durch den Wald und die Hügel in die entgegengesetzte Richtung, fort vom Kampfgeschehen.
Ein grauer zerzauster Wolf stand plötzlich rechts vor mir und sah mich an. Er wusste nicht so recht, was er mit mir anfangen sollte. Sein graues Fell stand zu Berge und er knurrte, die schleimigen Lefzen dabei herunterziehend. Ein anderer noch größerer Wolf, das Leittier, speiste in einiger Entfernung. Sein Opfer, das eine blutverschmierte Rotgardistenuniform trug, zappelte noch etwas, da wohl ein kleiner Rest Leben in ihm steckte.
Ein herzloses Lachen entrang sich meiner Kehle. Der Schreck über diese ganz neue, extrem bösartige Art des Humors, die ich augenscheinlich empfand, schnürte mir diese jedoch sofort wieder zu. Welches Monster konnte Spaß an diesem brutalen Anblick empfinden? Die Verwandlung beschränkte sich also nicht nur auf den Körper, sondern hatte auch das Bewusstsein erfasst.
Äußerst schmerzlicher Hunger krampfte den geleerten Magen zusammen. Der Geruch von frischem menschlichen Blut wehte köstlich herüber und machte mich gierig.
Ich ging zu dem fressenden Leitwolf und stieß ihn, meinen neuen Rang in dieser Welt klarstellend, beiseite. Er jaulte erschrocken auf, wagte aber keine Gegenwehr und beäugte mich zusammen mit den anderen Tieren des Rudels misstrauisch und furchtsam. Sie knurrten, fletschten drohend ihre Zähne, wagten jedoch keinen Kampf.
„Danke“, flüsterte der Rotgardist. Er konnte sogar noch sprechen.
Durch eine Schussverletzung fehlte ein Teil von seinem Kopf. Ein Augapfel hing blutig am Nervenstrang bis kurz über den Mund herunter. Sein anderes, verbliebenes Auge war auf mich gerichtet.
„Gern geschehen!“, erwiderte ich sarkastisch und biss in seinen Hals.
Das Blut des Sterbenden schmeckte ausgezeichnet. Die Bitterkeit des ersten Trunkes im Schacht wich einer ganz neuen Empfindung. Dieses Getränk war köstlich, frisch, zitronenhaft, seidig und sämig zugleich. Die Welt wandelte sich mit jedem Schluck weiter, erschien wunderbar, kristallen, mystisch, zauberhaft verändert und rein. Mein Blick wurde schärfer und die Kraft aller Sinne nahm zu.
Ich ging gestärkt weiter und fühlte mich immer besser, fast euphorisch. Die Wölfe folgten mir vorsichtig in einigem Abstand. Sie waren irritiert.
Ich roch noch mehr frisches Blut. Hinter einem Gebüsch lag ein weiterer bewusstloser Rotgardist. Mein Hunger war unermesslich. Gier stieg in mir hoch. Sie glich der eines Trinkers auf einer Feier. Das war mein Blutfest!
Ich vergaß alles um mich herum und grub genussvoll die Zähne in den neuen Hals.
„Was machst du da?“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.
Die Mordlust hatte zur Unachtsamkeit geführt.
Langsam wandte ich mich um.
Drei Gewehrmündungen wiesen direkt auf meinen Körper.
„Mein Gott!“, rief einer der drei und wollte sich im ersten Moment bekreuzigen. Stattdessen zielte er noch genauer.
Die Männer schauten mich von oben bis unten schockiert an. Der Anblick war wohl erschütternd. Für den Moment war auch ich sprachlos.
Konnte ein Kampf erfolgreich sein?
Durch die Auseinandersetzung mit dem Bolschewiken im Bergwerksschacht war ich über den Ausgang nicht sicher. Schon bei dem Kampf mit nur einem Mann war der Sieg schwer zu erringen gewesen. Waren ihre Kugeln nicht schneller? Vielleicht waren Vampire gar nicht unsterblich? Vorsicht war zu Beginn allemal besser.
Es waren zudem die Unsrigen, also keine Feinde.
„Ich wollte mir hier Sachen besorgen!“, log ich. „Die Rotgardisten haben mir alle gestohlen.“
Die Männer schwankten und begutachteten erstaunt meine Nacktheit.
„Wieso bist du so blutverschmiert?“
„Ich habe mich hier versteckt! Zur Tarnung habe ich mich unter den Toten gelegt, es muss sein Blut sein!“
Die Gruppe wirkte unsicher.
„Das sah fast aus, als wenn der noch lebte!“
Der Rotgardist war zum Glück inzwischen verstorben und konnte deswegen nichts mehr dazu sagen.
„Streck deine Hände vor! Das ist nicht geheuer und wir müssen das erst überprüfen.
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