Oma dreht auf
der Flut leckten bereits über die Wattfläche, zudem hatte sie irrsinnigen Durst, was ihr angesichts der heranrückenden Wassermassen fast grotesk erschien. Schließlich schien Amrum zum Greifen nahe, der Wind wehte ein paar Sandkörner von den weitläufigen Dünen herüber. Doch zwischen ihr und der Insel lag noch ein Priel, der sich rasend schnell füllte. Sie hatte sehr viel Zeit verloren, der Wasserstand war bedenklich, die Strömung reißend. Ohne zu zögern, zog sie sich ganz aus und stieg nackt in das eiskalte Wasser, das ihr bis zur Brust ging, ihre Klamotten trug sie auf dem Kopf.
Es ging gerade so.
Als sie den Priel erfolgreich durchwatet hatte, zog sie sich die Sachen wieder über die nasse Haut und schleppte sich mit allerletzter Kraft auf den asphaltierten Feldweg Richtung Norddorf. Ein stark auffrischender Rückenwind unterstützte sie dabei, sonst hätte sie es wohl nicht geschafft. Die sandigen Dünen neben dem Weg wurden abgelöst durch Weiden, auf denen schwarzbuntes Vieh graste, dann erreichte sie die Kreuzung Oode Waii / Bideelen, wo Johannes’ rot geklinkerte Doppelhaushälfte mit dem hohen, steilen Dach stand. Das Haus kannte sie seit vierzig Jahren, es war ihr weitaus vertrauter als die WG -Räume, die sie seit einem Jahr bewohnte.
Wenn die Kreisel in ihrem Kopf allerdings noch ein paar Sekunden so weiter tanzten, würde sie ohnmächtig zu Boden fallen. Bitte nicht, so kurz vorm Ziel!
Vor dem Eingang parkte ein großer kakaobrauner Kombi mit Dachreeling, den Imke noch nie gesehen hatte. Wo war der gute alte Lada geblieben, der für Johannes als Russisch-Dozent eine Art Aushängeschild gewesen war?
Die schwere braune Eingangstür war nicht abgeschlossen. Fast schaffte sie es nicht, die Klinke herunterzudrücken, so schwach war sie. Im Flur roch es anders, als sie es in Erinnerung hatte, und Johannes hatte die Schwarzweißfotos vom Watt abgehängt und durch Farbfotografien fremder Leute ersetzt. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Stimmen, Johannes hatte wohl Besuch. In diesem Zustand mochte sie ihm nicht entgegentreten, was sollte er von ihr denken? Er kannte sie als modebewusste Frau und nicht als Häufchen Elend.
Sie hatten sich einige Zeit nicht gesehen.
Wann war das letzte Mal gewesen?
Sie konnte sich nicht erinnern, und plötzlich war es ihr auch egal, sie wollte nur noch schlafen. Also kämpfte sie sich die Holztreppe in den ersten Stock hoch. Auf den Stufen lag noch der alte rote Bastteppich, der unangenehm unter ihren nackten Fußsohlen kratzte. Sie wankte durch die erste Tür, hier befand sich das Schlafzimmer. Auch diesen Raum hatte Johannes vollkommen neu eingerichtet, hier stand jetzt ein wuchtiges Doppelbett, und die Schränke waren alle ausgewechselt. Das hatte er gar nicht erwähnt, es sollte wohl eine Überraschung sein. Neben dem Bett entdeckte sie eine halbvolle Wasserflasche, die sie in hastigen Zügen austrank. Dann legte sie sich, ohne sich auszuziehen, aufs Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.
Dass die Urne mit Johannes’ Asche seit zwei Jahren auf dem Grund der Nordsee lag und dieses Haus längst anderen Leuten gehörte, hatte sie glatt vergessen.
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4. Putzen und lieben
Als Erstes nahm sich Ocke das Gemeinschaftszimmer vor. Im Grunde war diese Bezeichnung falsch, denn das eigentliche Gemeinschaftszimmer in ihrer WG war – wie in den meisten WG s – die Küche. Nicht einmal zum Fernsehgucken trafen sie sich hier in diesem Raum, da bevorzugten sie die Riesenglotze in Ockes Zimmer. Aber da das Zimmer nun mal da war, hatten sie es etwas lieblos mit all den Möbeln zugestellt, die sie in den anderen Räumen nicht haben wollten, zum Beispiel Christas dunkelbrauner Cord-Stoffcouch, die einen Platz im Museum verdient hätte, wenn sie nicht so durchgesessen gewesen wäre, oder Imkes klobige schwarze Ledersessel, die in ihrer alten Wohnung im Keller gestanden hatten und die überhaupt nicht zur Couch passten.
An der Wand hingen großformatige Schwarzweißfotos, sie zeigten verkantete Eisschollen, die sich im Watt zu bizarren Gebilden auftürmten, wie Trümmer von Häusern, die gesprengt worden waren. Die Bilder hatte Christa fotografiert und entwickelt. Sie stammten nicht aus dem ewigen Eis, sondern vom letzten Winter auf Föhr. Eigentlich schneite es nicht oft auf der Insel, das Meeresklima sorgte dafür, dass das Thermometer selten weit unter null ging. Aber das Wetter verhielt sich hier so wie die meisten Menschen, die auf Diät waren: Es
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