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Oma dreht auf

Oma dreht auf

Titel: Oma dreht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Mommsen
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betete sie zu Gott, dass er das Zeitungsarchiv durch Feuer oder Sturmflut vernichten möge, denn ihre Frisur und die weißen Schweißbänder an Stirn und Handgelenken machten sie im Nachhinein zu einer Karikatur. Leider hatte der Herrgott sie bisher nicht erhört.
    Imke schaute auf einen Ohrenkneifer vor ihren Füßen, der blitzschnell zwischen den Grashalmen davonhuschte; sie beneidete ihn für seine Mühelosigkeit. Auf keinen Fall würde sie aufgeben. «En betj gongt immer», murmelte sie ihr friesisches Mantra vor sich hin, «ein bisschen was geht immer». Das gab ihr das letzte Quäntchen Kraft, das ihr gefehlt hatte.
    Als sie endlich die Deichkrone erreichte, kam sie sich vor wie auf dem Siegertreppchen bei der Olympiade. Ihr Herz hüpfte, als stünde sie hier das erste Mal. Sie schaute in den riesigen Himmel über dem Watt, von gegenüber leuchtete ihr die sonnenverwöhnte, sandige Südspitze von Sylt entgegen. Imke schloss die Augen und ließ ihr Gesicht vom Wind massieren. Er hatte heute genau die Stärke, die ihn zärtlicher sein ließ als jede menschliche Hand. Sanft strich er ihr über die Stirn, füllte mit leichter Kühle ihre Augenhöhlen und berührte fast unmerklich ihre Wangen. Dann drehte er und nahm sich vorsichtig ihren Nacken vor.
    Sie ging den vertrauten Weg zum Watt hinunter. Der Meeresboden unter ihr war weich, aber nicht so nachgiebig wie sonst. Erst nach einigen Metern bemerkte sie, woran das lag: Sie trug noch ihre Ledersandalen. Auch wenn sie vorhatte, nur ein paar Schritte zu gehen, wollte Imke den warmen Schlick unter ihren Füßen spüren. Also zog sie die Schuhe aus und legte sie auf eine kleine Muschelbank, auf dem Rückweg würde sie sie wieder einsammeln. Ihre grün lackierten Fußnägel leuchteten auf dem Wattboden wie Steuerbordbojen.
    Jetzt hielt sie direkt auf Sylt zu. Die Nachbarinsel sah verlockend nahe aus, aber sie wusste, man konnte sie zu Fuß nicht erreichen. Der direkte Weg wurde durch einen tiefen Priel unterbrochen, der auch bei Ebbe nicht trocken lief. Es war einer der Gründe dafür, warum die Beziehung der Föhrer zu Sylt traditionell nicht so eng war wie die zu Amrum, was sich auch in der Sprache zeigte: Das Amrumer und das Föhrer Friesisch waren ähnlich, während das Sylter Friesisch für Föhrer nahezu unverständlich war. Plötzlich wusste Imke nicht mehr, ob sie die Geschichte mit dem Priel wirklich glauben sollte. Die Berliner Mauer war ja auch gefallen, obwohl es keiner für möglich gehalten hatte. Das Wattenmeer veränderte sich jeden Tag, vielleicht gab es den Priel überhaupt nicht mehr.
    Also auf nach Sylt!
    Im Gegensatz zu dem warmen Schlick war der Wind recht kühl. In ihrem weißen T-Shirt mit den bunten Pailletten war die Temperatur gerade so auszuhalten. Ein Gutes hatte die Brise auf jeden Fall: Sie kam von hinten und hielt sie frisch, sodass Imke sich viel stärker fühlte als vorhin auf dem Deich. Ihr fiel ein, dass sie gar kein Geld dabei hatte, falls sie sich auf Sylt ein Fischbrötchen kaufen wollte. Aber das würde sich finden.
    Unbeirrt hielt sie auf den Leuchtturm von Hörnum zu, den sie seit frühster Kindheit bei allen Wetterlagen und Jahreszeiten kannte. Die Wolken am Himmel spiegelten sich in den unzähligen Pfützen, wodurch Oben und Unten zu einem großen Ganzen verschwammen.
    Nachdem sie etwa eine halbe Stunde durchs Watt gewandert war, ging ihr plötzlich die Luft aus. Ein Schwächeanfall, noch schlimmer als vorhin auf dem Deich. Sie wusste, was das bedeutete: Ein paar Seemeilen weiter lauerten Millionen Tonnen grimmigen Meerwassers, die in ungefähr zwei Stunden alles ersticken würden, was nicht Meerestier war. Das war ihr sicherer Tod!
    Ihr Herz begann zu rasen, sie schwitzte und zitterte, ihr wurde kalt. Plötzlich sehnte sie sich nur noch nach Erlösung. Das erste Mal in ihrem Leben wäre sie einverstanden damit gewesen, sich der Flut zu überlassen. Ihr fiel ein, dass sich bei den Eskimos die Alten auf einer Eisscholle aussetzen ließen, wenn die Zeit gekommen war, damit sie der Gemeinschaft nicht länger zur Last fielen.
    Doch dann kam ihr Johannes in den Sinn. Wenn sie sich aufgab, beendete sie damit ihre Liebe, das konnte sie ihm nicht antun. Er brauchte sie und sie ihn. Unschlüssig schaute sie sich um: Amrum, Sylt und das Festland waren gleich weit entfernt, wohin sollte sie gehen? Natürlich zu Johannes! Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, jeder Schritt war so anstrengend wie ein ganzes Fußballspiel. Erste Vorboten

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