Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
den kleinen Körper vom Blut zu reinigen, ehe der Vater den Säugling an sich riss und den Mitgliedern des Clans zeigte, die im Haus versammelt waren. Das Baby wurde sanft vor ihnen abgelegt, und neben seine schwach rudernden Ärmchen platzierte man ein Messer und einen großen Schlüssel. Der Gegenstand, den seine Finger zuerst berührten, würde seinen Lebensweg vorherbestimmen. War es der Schlüssel, Symbol für das Gefängnis, würde er ein
sbirro
werden – ein Polyp, ein Gesetzesknecht. Wäre es dagegen das Messer, würde er nach dem Ehrenkodex leben und sterben. Es war das Messer, sehr zur Freude der Anwesenden. (Obwohl man der Wahrheit halber hinzufügen muss, dass ein hilfreicher Erwachsenenfinger die Klinge unter das Händchen gestupst hatte.)
Begeistert von der kühnen Karrierewahl seines Sohnes hob Giacomo Zagari den Kleinen in die Höhe, zog ihm die winzigen Gesäßbacken auseinander und spuckte ihm geräuschvoll auf den Anus, was ihm Glück bringen sollte. Er würde Antonio heißen wie sein Großvater, ein brutaler Verbrecher, der die Szene über seinen Walross-Schnauzbart hinweg, übelriechend und vergilbt dank der Zigarre, die er unentwegt zwischen den Zähnen stecken hatte, beifällig beobachtete. Der kleine Antonio war jetzt »halb drin und halb draußen«, wie die Männer der Ehrenwerten Gesellschaft es nannten. Er war noch kein vollwertiges Mitglied – er würde erst noch eine Lehrzeit durchlaufen, auf die Probe gestellt und beobachtet werden müssen. Doch der Weg in ein überdurchschnittlich grausames Gangsterleben war ihm bereits vorgezeichnet.
Zagari wuchs nicht in Kalabrien auf, sondern in der Nähe von Varese, unweit der Schweizer Grenze, wo sein Vater der örtliche ’Ndrangheta-Zelle vorstand. Während der gelegentlichen Gefängnisaufenthalte seines Vaters wurde Antonio als Jugendlicher in den Süden geschickt, um seinen Onkeln zur Hand zu gehen, die in der fruchtbaren Ebene von Gioia Tauro an der tyrrhenischen Küste Kalabriens mit Zitrusfrüchten Handel trieben. Er bewunderte die Verwandten und Freunde seines Vaters, zum einen wegen des Respekts, den man ihnen vor Ort entgegenbrachte, zum anderen wegen ihrer vornehmen Ausdrucksweise. Bevor sie ein auch nur annähernd unflätiges Wort äußerten wie »Füße«, »Toilette« oder »Unterhose«, pflegten sie um Verzeihung zu bitten: »Mit Verlaub gesprochen …«, »Verzeiht die Ausdrucksweise …« Und wenn ihnen keine Wahl blieb, als wirklich schmutzige Wörter wie »Polizist«, »Richter« oder »Gerichtssaal« in den Mund zu nehmen, überschlugen sie sich förmlich vor vorauseilenden Entschuldigungen:
»Ich muss euch, mit Verlaub, mitteilen, verehrte Anwesende, teure Freunde, und hoffe, ihr verzeiht es mir, wenn ich euch zu meinem Bedauern sagen muss, dass die Carabinieri (…)«
Als Sohn eines Bosses brauchte Antonio Zagari nur eine kurze Verbrecherlehre zu absolvieren. Er schmuggelte einige geheime Botschaften ins Gefängnis, versteckte ein paar Waffen und war schon mit 17 Jahren bereit, der Verbindung als vollwertiges Mitglied beizutreten.
Eines Tages kopierten ihm seine »Freunde«, wie er sie nannte, einige Seiten aus den
Regeln und gesellschaftlichen Vorschriften
, die er vor seiner Initiation auswendig zu lernen hatte. Es glich, wie er sich später erinnerte, dem Katechismus, den sich die Kinder vor Erstkommunion und Firmung einprägen mussten.
Die Statuten der »Gesellschaft«. Eine der vielen Seiten aus der Anleitung zum Initiationsritual der ’Ndrangheta, die im Juni 1987 im Versteck von Giuseppe Chilà gefunden wurden. Erwähnt werden auch die drei spanischen Ritter Osso, Mastrosso und Carcagnosso – der Legende nach die Begründer von Mafia, Camorra und ’Ndrangheta.
Dieser »Katechismus« beinhaltete auch Lektionen in ’Ndrangheta-Geschichte. Nachdem er also die Großtaten von Osso, Mastrosso und Carcagnosso seinem Gedächtnis einverleibt hatte, wurde Zagari für würdig erachtet, sich dem überaus komplizierten Initiationsritual zu unterziehen. Er wurde in einen isolierten, abgedunkelten Raum geführt und den ranghöchsten Mitgliedern vorgestellt, die alle im Kreis saßen. Vorerst musste er still sein, von der Gruppe ausgeschlossen.
»Seid ihr zufrieden, liebe Freunde?«, begann der Boss.
»Absolut. Womit?«
»Mit den gesellschaftlichen Regeln.«
»Absolut.«
»Gut. Im Namen der organisierten und gläubigen Gesellschaft taufe ich diesen Ort, wie es unsere Ahnen Osso, Mastrosso und Carcagnosso taten, mit
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