Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Schwäche des Staates wie von der Stärke der Mafias. Die Omertà führt uns mitten hinein in das Thema: Sie wird oft als eherner Verschwiegenheitskodex beschrieben, als eine unwiderrufliche Entscheidung zwischen Schweigen und Tod. In einigen Fällen ist sie zweifellos ein ebenso gnadenloses Gesetz, wie ihr Ruf es suggeriert. Und doch zeigen die historischen Quellen, dass die Omertà oft genug gebrochen wurde, wenn der Druck hoch genug war. Das ist einer der Gründe, warum so viele finstere Geheimnisse über die organisierte Kriminalität noch immer in den Archiven liegen und darauf warten, von uns ausgegraben zu werden. Und warum die Geschichte der Mafias in vielen Fällen eher von Irreführungen und Intrigen handelt als von Gewalt und Tod.
Um ihre Geheimnisse zu enthüllen, ihre Intrigen zu rekonstruieren und auf diese Weise befriedigendere Antworten auf die Frage nach ihren Ursprüngen zu finden, ist es wohl am besten, einfach Geschichten zu erzählen – dokumentierte Geschichten, die von realen Verbrechen handeln, von realen Männern und Frauen, und von realen Entscheidungen, die zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten getroffen wurden. Die renommiertesten Historiker, die sich mit den Ursprüngen des organisierten Verbrechens in Italien befassen, rekonstruieren diese Geschichten aus fragmentarischen Archivquellen und aus den Darstellungen von Personen (vorwiegend aus dem Kriminellenmilieu), die oftmals gute Gründe haben, um ihre Aussagen abzuändern. Es ist keineswegs banal, diese Art der Geschichtsforschung mit Detektivarbeit gleichzusetzen. Detektive bemühen sich, einen zusammenhängenden Fall zu schaffen, indem sie die vorliegenden Beweise mit dem vergleichen, was Zeugen und Verdächtige ihnen erzählen. Beiden – dem Historiker wie dem Detektiv – erschließt sich die Wahrheit aus den Lücken und Ungereimtheiten der verfügbaren Zeugenaussagen ebenso wie aus den Fakten, die sie enthalten.
Doch die Frage, die sich bei der Ergründung von Italiens langjährigem belasteten Verhältnis zu diesen unheimlichen Geheimbünden stellt, ist nicht nur, wer welche Verbrechen begangen hat. Es gilt auch herauszufinden, wer wie viel wusste. In den vergangenen 150 Jahren hatten Polizeibeamte, Richter, Politiker, Meinungsbildner und sogar die Allgemeinheit Zugang zu einer überraschenden Menge an Informationen über das Problem Mafia, nicht zuletzt dank der Zerbrechlichkeit der Omertà. Italiener waren auch wiederholt schockiert und empört angesichts der Gewalttätigkeit der Mafia und angesichts der Art und Weise, wie einige Vertreter von Polizei, Justiz und Politik mit Gangsterbossen paktierten. Infolgedessen wurde das Drama Mafia häufig vor aller Augen aufgeführt: als politische Konfrontation, als Medienereignis. Andererseits zeigte sich Italien auch höchst einfallsreich, wenn es Gründe zu finden galt, um wegzusehen. Deshalb ist die Geschichte der italienischen Mafias nicht nur eine Suche nach dem »Wer war’s?«, sondern auch nach dem »Wer hat’s gewusst?« und »Wer hat’s zugelassen und nichts dagegen getan?«.
Einleitung
In den frühen Morgenstunden des 15 . August 2007 bestiegen in der deutschen Stahlstadt Duisburg, nur wenige Meter vom Restaurant Da Bruno entfernt, wo sie Geburtstag gefeiert hatten, sechs junge Männer italienischer Abstammung eine Limousine und einen Kleinbus. Einer von ihnen war gerade 18 geworden (es war seine Party gewesen), ein Zweiter war erst 16 . Wie die Übrigen starben auch die beiden Jüngsten sehr schnell auf ihren Sitzen. Zwei Killer gaben 54 Schüsse auf sie ab, nahmen sich sogar die Zeit, ihre 9 -mm-Pistolen nachzuladen und jedem der sechs Opfer noch einen Gnadenschuss zu verpassen.
Es war das schlimmste Mafiablutbad, das jemals außerhalb Italiens und der USA stattgefunden hatte – das nordeuropäische Äquivalent zum Massaker am Valentinstag von 1929 in Chicago. Als der Hintergrund zu den Morden ans Licht kam – eine seit langem schwelende Blutfehde in einer wenig bekannten Gegend Süditaliens –, rangen Journalisten in aller Welt mit einem Begriff, den die
New York Times
als »unaussprechlich« bezeichnete: ’Ndrangheta. Der Name wird
En-drang-get-ah
ausgesprochen.
Die ’Ndrangheta stammt aus Kalabrien und ist am stärksten vertreten in der Provinz Reggio Calabria, wo das italienische Festland beinahe Sizilien berührt. Kalabrien gilt als Italiens ärmste Region, doch die dortige Mafia ist mittlerweile die reichste und mächtigste im ganzen Land. In den
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