Oracoli (German Edition)
könnte ihr Haus verkaufen. Ludwig Eisen käme sicher bei seiner Schwester in Essen unter. Von dem restlichen Geld, das der Verkauf ihr brächte, würde sie sich eine kleine Eigentumswohnung kaufen. Aber da waren ihre Kinder. Gut, Frauke hatte einen Job und könnte sich wahrscheinlich eine eigene Wohnung leisten, sie wäre vielleicht nicht mehr abhängig von ihr … Ingo studierte und bekam BAFÖG – Nein! ›Verdammt‹, dachte sie weiter, ›ich musste als Kind auf so vieles verzichten, weil meine Eltern so hoch verschuldet waren.‹ Ihre Kinder sollten so etwas nie erleben müssen, schwor sie sich schon damals.
Und da war noch ihre Liebe zur Kunst. Ihr Atelier sollte sie aufgeben? So ein Atelier würde sie in ihrem Leben nie wieder bekommen, das wusste sie. Darin ging sie auf, das war ihre Leidenschaft. Das war es, wofür Cora alles andere aufgeben würde. Ihre Kunst. Nein, verkaufen wollte sie nicht. Es musste eine andere Lösung geben. Taxi fahren durfte sie nicht mehr, soviel war klar. Mit dem alten Spinner würde sie schon klar kommen, das ist kein Problem. Wovon hatte die Sandweg noch geredet? Geld stinkt nicht? Sie hatte die Klamotten von Starks Mutter getragen? Sie, Cora Lahn, würde sogar die Sachen von Ferdinand Starks Vater tragen, wenn das Geld stimmt. Sie musste bei diesem Gedanken lachen. Das Wichtigste war, das Haus zu retten. Als erstes müsse sie ihren Taxi-Job kündigen und dann das Finanzamt anrufen, nein, besser wäre es, dort persönlich zu erscheinen und vorzusprechen. Cora fasste nun ein wenig Mut, und ihre Gemütsverfassung hellte sich etwas auf. Auf zum Finanzamt, beschloss sie. Sie kurbelte die Fenster bis auf einen kleinen Spalt hoch und ließ den Wagen an. ›Mist!‹, ihr fiel plötzlich ein, dass das Finanzamt Dienstag nur bis 12 Uhr aufhatte. ›Na ja, dann fahre ich morgen früh dahin‹, überlegte sie. Die machen um acht auf und um neun Uhr fing erst ihr Dienst an. »Ab nach Hause, die Dusche ruft«, sagte sie und legte den Gang ein, aber der Wagen rollte nicht vorwärts. ›Da muss ein Baum oder so was liegen‹, dachte sie und stieg aus dem Auto …
»Verdammte Scheiße«, schrie sie, hielt sich die Schläfen und fing an zu weinen.
Das Taxi hielt am Mittwochmorgen vor dem Finanzamt Dortmund-West an der Märkischen Straße. Cora saß neben Manni Kramer, ein guter Arbeitskollege von ihr, der von der Nachtschicht zur Tagschicht gewechselt hatte. Manni war 35 Jahre alt, er hatte einen Vollbart und lange blonde Haare. Seine Nickel-Brille mit den runden Gläsern passte zu seinem eigentlichen Beruf; er war Archäologe. »Wünsche mir Glück«, sagte Cora. »Dass ich wenigstens die Kralle an meinem Auto wieder los werde.« Manni griff zum Armaturenbrett, nahm sein Taschenbuch und kurbelte gleichzeitig die Rückenlehne zurück. »Cora, mach‘ Dir keinen Kopp darüber, gleich weißt Du mehr. Ich warte hier auf Dich.« Sie stieg aus und ging zögernd auf das Gebäude zu. Als Manni auf die Hupe drückte, drehte sie sich um. Manni ließ das rechte elektrische Fenster der Beifahrerseite herunter und hielt beide Daumen gedrückt. Cora lächelte ihn dankbar an,
schaute auf ihre Uhr und beschleunigte den Schritt.
»Drei Monate?«, fragte Cora resigniert. »Wie soll ich das nur schaffen, Herr Kirmes?« Guido Kirmes war 29 und Beamter der Erhebungsstelle des Finanzamtes in Dortmund-West. Er war dünn, trug seine fettigen Haare nach rechts gescheitelt und einen grauen Anzug. Cora hatte das Gefühl, vor einem Kind zu sitzen. »Ihr Mann war schon mit seinen Zahlungen der Umsatzsteuer in Verzug«, sagte er. »Aus Gründen der Pietät haben wir Sie nach dem Tod ihres Mannes damit nicht belasten wollen, Frau Lahn. Aber wir müssen schließlich alle unsere Steuern zahlen, und Ihre Steuern sind nun wirklich überfällig.«
»Aber ich verdiene …«
»Sie haben ein Haus«, unterbrach er sie. »Ich kann Ihnen helfen. Wir arbeiten sehr eng mit einem Immobilien Ha… äh Herrn zusammen, Frau Lahn. Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich in den nächsten Tagen mit Herrn Kolbe bei Ihnen vorbei. Herr Kolbe ist Immobilienmakler und wird Ihnen einen fairen Preis für Ihr Anwesen unterbreiten.«
›Zeit gewinnen‹, dachte Cora. ›Vielleicht bekomme ich ja noch eine Fristverlängerung‹.
»Und die Kralle, Herr Kirmes?«
»Ist so gut, wie weg«, antwortete er, stand auf und begleitete Cora zur Tür. »Ach noch was, Frau Lahn.« Cora drehte
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