orwell,_george_-_1984
tauchte seine Feder ein und schrieb:
»Einer Zukunft oder einer Vergangenheit, in der Gedankenfreiheit herrscht, in der die Menschen voneinander verschieden sind und nicht jeder für sich lebt – einer Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, schicke ich diesen Gruß aus einem Zeitalter der Gleichmachung und der Vereinsamung, dem Zeitalter des Großen Bruders, dem Zeitalter des Zwiegedankens.«
Er war bereits tot, überlegte er. Es schien ihm, als habe er erst jetzt, seit er angefangen hatte, seine Gedanken formulieren zu können, den entscheidenden Schritt getan. Die Folgen jeder Handlung sind schon in der Handlung selbst beschlossen. Er schrieb:
»Das Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: das Gedankenverbrechen is t der Tod.« Jetzt aber, seit er sich als einen toten Mann betrachtete, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben
zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte bekleckst. Gerade durch eine solche Kleinigkeit konnte man sich verraten. Ein schnüffelnder fanatischer Eiferer im Ministerium (vermutlich eine Frau: so jemand wie die kleine Aschblonde oder das schwarzhaarige Mädchen aus der Literatur-Abteilung) konnte sich zu wundern anfangen, warum er während der Mittagspause geschrieben, warum er eine altmodische Stahlfeder benützt und was er geschrieben hatte – um dann an zuständiger Stelle einen Wink zu geben. Er ging ins Badezimmer und schrubbte die Tintenflecke sorgfältig mit der sandigen dunkelbraunen Seife, die einem die Hand wie Schmirgelpapier aufscheuerte und deshalb für seinen Zweck geeignet war.
Er legte sein Tagebuch in die Schublade. Der Gedanke, es zu verstecken, war völlig sinnlos, aber er konnte wenigstens Vorkehrungen treffen, um sich zu vergewissern, ob es entdeckt worden war. Ein zwischen die Seiten gelegtes Haar war zu augenfällig. Mit der Fingerspitze pickte er ein gerade noch erkennbares weißliches Staubkörnchen auf und legte es auf die Ecke des Einbands, wo es herunterfallen
mußte, wenn jemand das Buch berührte.
Drittes Kapitel
Winston träumte von seiner Mutter. Er mußte, so überlegte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwunden war. Sie war eine große, würdevolle, ziemlich stille Frau mit gemessenen Bewegungen und wundervollen blonden Haaren gewesen. Seinen Vater hatte er undeutlicher in Erinnerung: dunkelhaarig und hager, immer in eleganten dunklen Anzügen (Winston entsann sich insbesondere seiner sehr dünnen Schuhsohlen) und mit einer Brille. Die beiden mußten offenbar bei einer der ersten großen Säuberungsaktionen nach 1950 ums Leben gekommen sein.
Im Traum saß seine Mutter an einem Platz tief unter ihm, seine kleine Schwester in den Armen. Er erinnerte sich an seine Schwester nur noch als an ein winziges, schwächliches, immer lautloses Kind mit großen, aufmerksamen Augen. Beide blickten zu ihm empor. Sie befanden sich an einer Stelle unter der Erde – etwa auf dem Grunde eines Ziehbrunnens oder in einem sehr tiefen Grab –, aber der Fleck, auf dem sie
saßen, sank, obwohl bereits tief unter ihm gelegen, selbst noch immer tiefer nach unten ab. Sie waren in der Kajüte eines sinkenden Schiffes und blickten durch das immer dunkler werdende Wasser zu ihm empor. Noch war Luft in der Kajüte, noch konnten sie einander sehen, aber die ganze Zeit sanken sie tiefer, immer tiefer hinunter in die grünen Wasser, die sie im nächsten Augenblick für immer dem Blick entziehen mußten. Er weilte in Licht und Luft, während sie in den Tod hinuntergezogen wurden, und sie waren dort drunten, weil er hier oben war. Er wußte es, und auch sie wußten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Es war kein Vorwurf, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, nur das Bewußtsein, daß sie sterben mußten, damit er am Leben blieb, und daß dies zur unausweichlichen Ordnung der Dinge gehörte.
Er konnte sich nicht erinnern, was eigentlich geschehen war, aber er wußte in seinem Traum, daß das Leben seiner Mutter und seiner Schwester irgendwie für das seine geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die in der charakteristischen Verkleidung des Traumes doch eine Fortsetzung des seelischen Erlebens sind und in denen einem Tatsachen und Gedanken zum Bewußtsein kommen, die auch nach dem Erwachen neu und wertvoll erscheinen. Die Erkenntnis, die Winston jetzt plötzlich dämmerte, war, daß der Tod seiner Mutter vor dreißig Jahren auf
Weitere Kostenlose Bücher