Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Gedicht Wort für Wort einzuprägen. Obschon – ich könnte mich auch irren. Sollte ich nicht lieber vor ihm warnen? Ja, das ist vernünftig. Besser kein Risiko eingehen. Sich mit ihm einzulassen verlangt dem Leser nämlich eine gehörige Portion Stärke ab, mehr als mancher aufbringen kann… Oder aufbringen will.
Dieses Gedicht, nur so viel sei noch gesagt, ist nämlich ein Wolf im Schafspelz, ein zweischneidiges Schwert, Segen und Fluch in einem – nein, es ist nichts davon und doch alles zusammen. Seine Strophen widersetzen sich jedem Versuch, sie mit einer kurzen, griffigen Formel zu beschreiben. Tja, und das soll jetzt auch reichen. Zeit, den Deckel zuzuklappen und sich nicht länger meinem Gejammere auszusetzen.
Andererseits…
Es mag nicht gerade vernünftig sein und ich kann auch niemandem guten Gewissens empfehlen, mir über die Schulter zu schauen, während ich hier meine Gedanken ordne, aber wenigstens für mich will ich es tun. Wo ich doch selbst, viel zu oft unter Schmerzen, nach der Vollkommenheit strebte, muss ich das Geheimnis dieser Verse ergründen. Ja, mir wird erst dann wohler sein, wenn ich wenigstens den Versuch unternommen habe, ihre wahre Natur zu enträtseln.
Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht harmlos. Seine äußere Form täuscht Berechenbarkeit vor. Es wirkt wie mit dem Zollstock entworfen: vierzehn Zeilen von je elf Silben, aufgeteilt in zwei Strophenpaare von zunächst vier und dann drei Zeilen – kinderleicht.
Wer das denkt, ist schon verloren. Was da im klassischen Gewand eines Sonetts daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Gespinst aus Worten, in dem man sich leicht verheddern kann. Auch Labyrinthe locken gerne mit rechten Winkeln, geben sich den Anschein des Klaren, Überschaubaren, doch hat man sich erst ihrer strengen Ebenmäßigkeit anvertraut, lassen sie einen so schnell nicht mehr los. Mit besagtem Gedicht ist es genauso, und dafür gibt es durchaus verschiedene Gründe. Oder sagen wir, mindestens zwei.
Schon für sich allein betrachtet, steckt die Lebensregel voller Tücken: Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.
Raffiniert, nicht wahr?
Man möchte einfach zustimmen, oder?
Wie leicht man sich doch in einen Gedanken verrennen kann!
Im Irrgarten kluger Worte gibt es viele Sackgassen. So auch hier: Weisheit kann man nämlich nicht mit Löffeln essen. Vielleicht ist ja auch das nur eine Binsenweisheit, aber es lässt sich nicht abstreiten, die wenigsten von uns entdecken während ihres Marsches von der Geburt zum Grab irgendein großes Schild, auf dem gut lesbar steht: »Jetzt hast du es geschafft, von nun an bist du klug.« Deswegen läuft man und läuft, nie so recht wissend, wann die Ziellinie endlich überschritten ist, und sollte einem zum Schluss dennoch der Weisheit Siegeskranz zufallen, ist unterwegs garantiert eine Menge schief gelaufen.
Apropos Kranz. Wie ein solcher sogar einen Berg von Problemen verursachen kann, davon möchte ich hier berichten. Und damit wären wir auch schon beim zweiten Grund angelangt, der besagtes Sonett zu einer im wahrsten Sinne des Wortes fesselnden Dichtung macht. Aber das Beste wird wohl sein, ich fange ganz von vorne an.
Wenn Polizisten Flügel wie Engel hätten, wäre vermutlich alles anders gekommen. Zu der Zeit, da die dramatischen Ereignisse unserer Geschichte ihren Lauf nahmen, besaßen die Ordnungshüter von Silencia aber nur Fahrräder, bestenfalls noch Motorroller. Wilde Verfolgungsjagden waren in der Stadt schlicht undenkbar, zum einen wegen der viel zu engen und entschieden zu steilen Gassen, zum anderen aus Mangel an hinreichend bösen Verbrechern. Das Wortbild von der »ehrlichen Haut« passte in diesen Tagen schon eher zum typischen Bewohner Silencias. Leider gab es auch Ausnahmen. Oder sagen wir, mindestens eine.
Ebendiese unsagbare Einmaligkeit steckte im Körper eines Mannes. Wo sich übliche Ordnungswidrigkeiten in Silencia mit ein paar guten, manchmal auch strengen Worten regeln ließen, wäre zur Vereitelung der Machenschaften dieses Ausnahmebürgers schon ein ganzes Geschwader von flugerfahrenen Gesetzeshütern nötig gewesen, und wer weiß, vielleicht hätten selbst ihre schweifenden Blicke die unheimlichen Veränderungen hoch über den Dächern nicht bemerkt.
Oberflächlich betrachtet gab die Stadt nämlich seit eh und je dasselbe friedliche Bild ab. Sie lag wie eine Festungsanlage auf einer Anhöhe. Bei schönem Wetter konnte man von dort oben die ferne See erblicken.
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