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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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angesehener Beruf (solcherlei Mundwerker verfassten Verse für Geburten, Hochzeiten, Todesfälle und andere bewegende Anlässe).
    Pasquale war Palas Nachbar – nicht nur in der Alexandrinergasse, sondern auch hinter der Schulbank –, und wenn es nach ihm ging, auch ihr zukünftiger Ehemann. Auf seine regelmäßigen Heiratsanträge pflegte sie zu antworten: »Frag mich in zehn Jahren noch mal, wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegt hast.« Woraufhin seine Erwiderung dann ungefähr so klang: »In tausend Jahren nicht! Mein Herz verzehrt sich nach dir, Pala. Nie und nimmer wird es für mich eine andere geben als dich.« Pasquales temperamentvolle Gefühlsaufwallungen konnten sie schon lange nicht mehr aus der Fassung bringen. Gewöhnlich beendete sie die Brautwerbung mit ihrem Wahlspruch: »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.«
    Eine besondere Bedeutung lag für sie in diesen Worten. Sie bildeten nämlich die Anfangszeile eines Gedichts, das sie zu ihrer Geburt geschenkt bekommen hatte, so war es ihr von den Eltern immer wieder erzählt worden. Seitdem schmückte es, eingerahmt und hinter Glas, die Wand ihres Zimmers. Das geflügelte Wort war jedoch längst der ganzen Familie zu einem Leitsatz geworden.
    Bisweilen konnte Palas Mutter, zumindest nach Auffassung ihrer Tochter, ziemlich anstrengend sein. Äußerungen wie »Du bist spindeldürr, meine Große, dagegen müssen wir etwas machen« gehörten für sie zu den gemeinsamen Mahlzeiten wie das tägliche Tischgebet. Oft sprach sie auch von »meinem zerkratzten Kleiderständer«. Derartige Anspielungen auf Palas angeblich zu geringen Körperumfang klangen niemals verächtlich, aber häufig besorgt. Dafür liebte Pala ihre Mutter, anstatt ihr zu grollen. Und der Rest stimmte ja: Pala kletterte gerne auf Bäumen und Mauern herum, weshalb ihre Arme und Beine nicht selten zerschrammt waren wie bei einem alten Möbelstück.
    In diesen »halsbrecherischen Kapriolen«, wie ihre Mutter sich auszudrücken pflegte, sah Pala eine gute Möglichkeit, sich ungestört in ein Buch zu vertiefen. An leichter zugänglichen Stellen Silencias ließ sich dergleichen selten einrichten, weil dort fast immer jemand mit einem anderen schnatterte. Oder weil Nina ihren dicken und oft feuchten Windelpo mitten auf die Buchseiten stempelte. Nina war ein kurzes, speckgepolstertes, gleichwohl quecksilbriges sowie unablässig brabbelndes Wesen und außerdem noch unserer Heldin kleine Schwester.
    Wer in Pala nun eine menschenscheue Einzelgängerin vermutet, würde ihr Unrecht tun. Sie tobte auch gerne mit Pasquale barfüßig durch Silencias schmale Gassen. Aber wenn ihrem kugeligen Freund die Puste ausging – was nie besonders lange dauerte –, dann schlug die Stunde der Wortschöpferin. Pala könne aus Worten Kunstwerke erschaffen, behauptete Pasquale, meist, um einem seiner Heiratsanträge den Weg zu ebnen. Statt des Jaworts bekam er von ihr aber nur knifflige Rätsel zu hören. Oder sie dachte sich neue Begriffe aus, die er wiederholen musste. Lieber lauschte er jedoch ihren Geschichten. Die sprudelten unablässig aus Palas Phantasie hervor und mit jeder neuen versuchte sie alle bisherigen zu übertreffen. Häufig stammten sie aber auch vom alten Gaspare, an dem wir nicht vorbeikommen, wenn diese Geschichte vollständig erzählt werden soll.
    Gaspare Oratore war, nach eigenem Bekunden, ein »ausgemusterter Geschichtenerzähler«. Pala nannte ihn Nonno, also Großvater, und das, obwohl er mit ihren Eltern nicht einmal entfernt verwandt war, aber das störte sie nicht weiter. Weil Nonno Gaspare im Seilhüpfen nicht mehr so geschmeidig war, hatte er Pala Wortspiele beigebracht und ihr gezeigt, wie man verzwickte Rätsel löste. Manchmal erfanden das Mädchen und der alte Mann Bandwurmsätze, in denen jedes Wort mit dem gleichen Buchstaben beginnen musste. Derlei Zeitvertreib ging meistens mit lautem Lachen und Gackern einher. Wenn der Großvater indes von seinem bewegten Leben als fahrender Geschichtenerzähler berichtete, war Pala wie gefesselt. Ja, sobald er diesen versonnenen Blick bekam und aus dem Quell seiner zahllosen Geschichten zu schöpfen begann, wurde sie mucksmäuschenstill – und das wollte schon etwas heißen! Sie saß dann einfach nur da, meist auf der verwitterten Holzbank vor Gaspares Feldsteinhäuschen, und hing an seinen Lippen. Ab und zu, wenn seine feingliedrigen großen Hände geschmeidige Gesten vollführten, zog sie mit der linken Hand ihr

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