Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
jetzt sehr vorsichtig sein musste. Umbra war auf ihre Weise genauso gefährlich wie Corvas. Ein falsches Wort, und es war um sie geschehen. Am besten spielte sie das naive Mädchen, das unversehens in etwas hineingeraten war, das es nicht einmal ansatzweise verstand. »Ich weiß es nicht. Der Mann im roten Anzug hat ihn angegriffen und irgendetwas mit ihm gemacht. Anschließend war Liam fort.«
»Welcher Mann im roten Anzug?«, fragte Umbra.
»Ich glaube, er war ein Incubus. Das hat zumindest dieser Alb gesagt.«
»Lucien?«
»Ja.«
Umbra seufzte und kam zu ihr. »Erzähl mir genau, was geschehen ist.«
Vivana berichtete von dem Kampf und wie Seth die seltsame Säule aus purer Hitze erschaffen hatte. Dass Liam ihn zuvor angeschossen hatte, behielt sie für sich. Besser, Umbra wusste nichts von der Pistole.
Die Leibwächterin hörte geduldig zu. Schließlich sagte sie: »Ich fürchte, für deinen Cousin gibt es keine Hoffnung mehr. Der Incubus hat ihn verbrannt.«
»Das glaube ich nicht. Hier liegt nirgendwo seine Leiche.«
»Ein Incubus kann das Feuer des Pandæmoniums heraufbeschwören. Es brennt so heiß, dass nichts übrig bleibt.«
»Nein«, erwiderte Vivana leise. »Liam ist nicht tot. Ich weiß es.«
Der Blick, mit dem Umbra sie bedachte, war voller Mitleid. »Komm. Du solltest jetzt nach Hause gehen.«
»Ich will nicht nach Hause«, protestierte Vivana schwach, doch als die Leibwächterin sie behutsam Richtung Tür führte, war ihr, als verließen sie all ihre Kräfte.
Wie in Trance ging sie neben Umbra her, bis sie zur Eingangshalle kamen. Beiläufig registrierte sie, dass dort dasselbe Ausmaß an Verwüstung herrschte wie im Kuppelsaal: Türen und Möbel waren zerstört, Teppiche zerrissen. Durch die zersplitterten Fenster regnete es herein, überall lagen tote Ghule. Die wenigen Spiegelmänner, die den Kampf unbeschadet überstanden hatten, waren auf ihre Posten unter und auf der Galerie zurückgekehrt und standen dort in gespenstischer Stille, als wäre nie etwas geschehen.
Umbra trat zum Portal und blickte hinaus in die Nacht. »Ein scheußliches Wetter. Ich besorge dir besser eine Droschke.«
»Ich brauche keine Droschke.« Vivana wollte allein sein und zu Fuß gehen. Sie musste nachdenken.
»Bist du sicher? Du wirst völlig durchnässt sein, bevor du zu Hause bist. Und vielleicht treiben sich immer noch Ghule in den Gassen herum.«
»Mir passiert schon nichts.«
»Gut. Wie du willst. Falls man dir wegen der Ausgangssperre Schwierigkeiten macht, sagst du ›Basilisk‹. Das ist das Losungswort. Damit wird man dich gehen lassen.«
Vivana nickte. Dann trat sie hinaus in den Regen.
»Eine Frage noch«, sagte Umbra. »Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?«
»Welche Wachen?«
»Du hast doch die Herrin gehört. Die Spiegelmänner haben den Befehl, niemanden in den Palast zu lassen. Du hättest gar nicht hier sein dürfen.«
Vivana strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Euer Misstrauen kennt keine Grenzen, was?«
»Beantworte meine Frage.«
»Ich bin über die Mauer geklettert. Liam hat mir dabei geholfen.«
»Und wie bist du ins Haus gelangt?«
»Durch das Fenster von Liams Zimmer.«
»Ohne dass die Spiegelmänner etwas bemerkt haben?«
»Sieht ganz so aus.«
»Ziemlich viel Aufwand, nur um deinen Cousin zu besuchen«, meinte die Leibwächterin.
Vivana schwieg.
»Wäre es nicht einfacher gewesen, ihr hättet euch anderswo getroffen? Stell dir vor, man hätte euch erwischt. Ihr hättet in große Schwierigkeiten kommen können.«
»Man hat uns aber nicht erwischt.«
»Und genau das ist es, was mich wundert«, sagte Umbra. »Die Spiegelmänner standen vor jedem Zugang. Und ihnen entgeht nichts.«
»Es war dunkel. Und es hat gestürmt. Da war es nicht besonders schwer, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen.«
»Ja. Ich schätze, so ist es gewesen, nicht wahr?«, erwiderte die Leibwächterin. Vivana sah ihr jedoch an, dass diese Erklärung sie nicht restlos überzeugte.
»Darf ich jetzt gehen?«
Umbra nickte. »Sei vorsichtig.«
Vivana schlurfte mit eingezogenem Kopf durch den Regen und spürte, dass die Leibwächterin ihr nachblickte, bis die Finsternis sie vollständig einhüllte.
33
Entscheidungen
E s war ein heftiger, aber kurzer Sturm gewesen. Als Vivana den Palast verließ, blitzte und donnerte es nicht mehr. Auch der Wind hatte nachgelassen. Regen fiel monoton auf Dächer und Pflastersteine, legte einen trüben Schleier um die Gaslaternen und
Weitere Kostenlose Bücher