Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
konnte, was Jackon damit meinte, erregten Geräusche vom Portal ihre Aufmerksamkeit. Die Spiegelmänner wichen einige Schritte zurück, als Flammen unter den Türflügeln hervorschossen und am Holz leckten. Rauch wallte auf.
»Das ist Seth!«, stieß Lucien hervor. »Versteckt euch!«
Die Flammen hüllten das Portal ein und verzehrten es binnen weniger Augenblicke. Eine Gestalt erschien in der lodernden Wand wie ein dunkler Engel, ehe das Feuer sich um sie sammelte und auf die Spiegelmänner zuschoss. Zwei der Maskierten wurden davon erfasst und wälzten sich brennend auf dem Boden. Dann sanken die Flammen herab, und die Ghulhorde quoll in den Saal, eine Masse aus verwesendem Fleisch und gelben Knochen. Die Untoten kreischten und schirmten ihre Augen vor dem Licht ab, doch ihre Furcht vor der Helligkeit währte nicht lange. Schon im nächsten Moment gewann ihre Gier nach lebendem Fleisch die Oberhand, und sie stürzten sich auf die Spiegelmänner.
Jackon machte sich hinter der Vitrine klein, zitterte noch heftiger als zuvor und wünschte, er müsste die grauenerregenden Schreie nicht hören.
Lucien verbarg sich hinter einem Wandschirm und beobachtete den Kampf - zumindest versuchte er es. Seine Augen waren für die Dunkelheit geschaffen; das Licht der zahlreichen Lampen ließ sie schmerzen, sodass er Mühe hatte, Einzelheiten zu erkennen.
Überall im Saal kämpften Spiegelmänner gegen die Übermacht der Ghule. Amander, dessen giftige Berührung gegen die Untoten wirkungslos war, hatte sich auf die Galerie zurückgezogen und lud eine Pistole. Corvas dagegen stand mitten im
Getümmel, in jeder Hand ein Messer, stieß einem Ghul eine Klinge in die Augenhöhle, trat der Kreatur gegen den Brustkorb und wirbelte blitzschnell herum, um einer anderen den Hals aufzuschlitzen.
Seth und Aziel traten ungehindert durch die schwelenden Überreste des Portals, gefolgt von den Vílen. Lucien kniff die Augen zusammen. Die Verletzung, die er Seth beigebracht hatte, schien fast vollständig verschwunden zu sein. Lucien war nicht überrascht. Geschöpfen des Pandæmoniums, selbst wenn sie nur zur Hälfte Dämonen waren, konnte man mit gewöhnlichen Waffen lediglich Schmerzen zufügen - wirklich schaden konnte man ihnen damit nicht.
Seth wartete an der Pforte, während Aziel hinter den Pfeilern der Galerie verschwand und die bleichen Zwillinge mit flatternden Gewändern Richtung Kuppeldach zu schweben begannen, zweifellos, um nach dem Jungen Ausschau zu halten. Lucien fluchte leise. Das war genau die Situation, die er hatte vermeiden wollen: Sie saßen im Saal fest, ohne jede Fluchtmöglichkeit. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass Aziel in der Welt diesseits der Mauern des Schlafes kaum Macht besaß. Zwar konnte er auch hier Träume heraufbeschwören, aber anders als in der Stadt der Seelen waren diese zu schwach, um in einem Kampf von Nutzen zu sein. Aziel musste sich auf seine Helfer und seine Körperkraft verlassen. Damit war er immer noch ein schrecklicher Gegner, aber wenigstens einer, gegen den Lucien etwas ausrichten konnte.
Geduckt hastete er zu seinen drei Schützlingen, die sich hinter einer Vitrine versteckten. Als das Mädchen ihn anblickte, verspürte er abermals einen Stich in seinem Innern, und ungeachtet der Gefahr, in der sie schwebten, konnte er nicht anders, als sie kurz anzustarren. Sie sah nicht genauso aus wie Caitlin; ein paar Kleinigkeiten waren anders: Das Haar war etwas heller, der Mund etwas breiter, das Gesicht ein klein wenig feiner
geschnitten. Dennoch war die Ähnlichkeit so groß, dass er Vivana bei ihrer ersten Begegnung einen schmerzhaften, ungewissen Augenblick lang für sie gehalten hatte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte das Mädchen.
Sogar die Stimme , dachte er und kämpfte gegen die Flut der Erinnerungen an, die in ihm aufstieg. Nicht jetzt. Wenn sie heil hier herauskommen wollten, brauchte er einen klaren Kopf. »Wir müssen den Saal verlassen, bevor Aziel euren Freund findet. Vielleicht können wir uns das Chaos zunutze machen und fliehen, ohne dass er etwas bemerkt.«
»Was ist mit dem Kerl an der Tür?«, fragte der Junge, der Liam hieß.
»Ich versuche, Seth abzulenken«, antwortete Lucien. »Hört zu: Wir laufen unter der Galerie zur anderen Seite des Saales. Haltet euch im Schutz von Stellwänden und Möbeln, damit Fay und Whisper euch nicht sehen. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, lauft ihr zur Tür.«
Der rothaarige Junge wandte ihm sein schreckensbleiches Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher