Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
kommen.«
»Du willst mich ins Pandæmonium begleiten?«, fragte Vivana zögernd.
»Du wirst einen Führer brauchen. Jemanden, der Dämonen und ihre Heimtücke kennt.«
»Eben hast du noch gesagt, was ich vorhabe, wäre verrückt.«
»Das ist es auch, und ich bin ein Narr, weil ich dabei mitmache. Aber ich schätze, ich kann nicht anders«, sagte der Alb mit einem seltsamen Lächeln.
»Warum?«
»Du erinnerst mich an jemanden. An eine Person, an der mir einst sehr viel lag.«
Es war Vivana schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen, dass sich Lucien ihr gegenüber merkwürdig verhielt. Aber sie war zu erschöpft, zu niedergeschlagen, um darüber nachzudenken. »Einverstanden«, sagte sie. »Lass uns gehen.«
»Nein. Wir dürfen nichts überstürzen.«
»Aber Liam braucht uns!«
»Wenn wir Hals über Kopf aufbrechen, bringen wir uns nur in Gefahr. Liam ist damit nicht geholfen. Wenn wir eine Chance haben wollen, im Pandæmonium zu überleben, müssen wir uns vorbereiten. Verpflegung besorgen. Waffen. Informationen. Davon abgesehen öffnet sich das Tor jeden Tag nur für kurze Zeit.«
»Wann?«
»In der Stunde nach Mitternacht. Wir haben also noch fast einen Tag Zeit. Geh nach Hause. Ruh dich aus und pack Sachen für eine lange Reise ein. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns an der Alten Arena.«
»Das Tor ist in der Arena?«
»Tief unter ihren Grundmauern«, erklärte Lucien. »In einem vergessenen Gewölbe.«
»Und man kann einfach hindurchgehen?«
»Nein. Nichts von dem, was uns bevorsteht, ist einfach. Aber noch schwieriger wird es, das Pandæmonium wieder zu verlassen, selbst wenn wir von unserer Suche unbeschadet zurückkehren.«
Vivana unterdrückte ein Schaudern. Sie durfte nicht daran denken, was sie erwartete. Alles was zählte, war, dass sie Liam fand. »Heute Abend an der Alten Arena«, sagte sie. »Ich werde dort sein.«
Lucien nickte zum Abschied, verschwand vor ihren Augen und ließ sie allein im Regen zurück.
Ich komme, Liam , dachte sie, während sie durch die Nacht eilte. Halte durch. Bitte halte durch.
34
Pandæmonium
B linzelnd schlug Liam die Augen auf. Er war schwach, so schwach, dass er kaum den Kopf heben konnte. Übelkeit stieg in ihm auf, als er versuchte, sich zu bewegen, und es schien keine Stelle seines Körpers zu geben, die nicht schmerzte.
Wenigstens war es nicht mehr so heiß. Seth war fort. Es herrschte Stille. Kein Krähengeschrei, keine wispernden Ghulstimmen. Er schien allein zu sein.
»Jackon? Vivana?«
Keine Antwort. Liam kämpfte gegen den Brechreiz an, als er sich aufsetzte. Dies war nicht der Kuppelsaal des Palastes. Er lag auf einem Podest aus verwitterten Steinplatten, umgeben von geborstenen Säulen, die fremdartige Schriftzeichen aufwiesen. Feuerschein glühte aus einem Schacht in der Nähe herauf, der Boden war karg und steinig. Mehr konnte er nicht sehen, denn Rauch und ein seltsamer Dunst verhüllten alles.
Was war das für ein Ort? Wie war er hierhergekommen?
Und der Himmel … Manchmal glaubte er, meilenweit über seinem Kopf eine kathedralenartige Höhlendecke zu erkennen, bestehend aus titanischen Steinblöcken und Rippenbögen. Dann war wieder nur der allgegenwärtige Dunst zu sehen, sodass er sich fragte, ob er sich alles nur eingebildet hatte.
Schwankend stand er auf. »Vivana? Bist du hier irgendwo?«
Wieder antwortete niemand. Er blickte sich um und entdeckte am Rand des Podests die Tasche. Erleichtert nahm er sie an sich. Wenigstens hatte er das Buch nicht verloren.
Ein Geräusch erklang: das Schlagen zweier Schwingen. Ein schwarzer Schemen erschien, wuchs riesenhaft vor ihm in die Höhe.
Er wich einen Schritt zurück. Und noch einen. Nein , dachte er voller Grauen. O Gott, nein …
Eine unmenschliche Stimme hallte durch den Dunst, alt und böse und knarzend wie verrosteter Stahl: »Na, kleiner Sterblicher? Suchst du den Weg nach Hause?«
ENDE DES ERSTEN BANDES
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