Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
die Lunge mit Nikotin voll, dann zwang er sich, doch noch mal einen Blick auf die Mordszene zu werfen, ehe alles in Plastikbeutel gestopft und weggebracht wurde. Ein kurzer Rundblick genügte, er konnte sich auf sein Gedächtnis verlassen. Was er einmal gesehen hatte, war automatisch in ihm abgespeichert.
Das Ganze erinnerte an eine Szene aus einem Horrorfilm. Jemand hatte eine kreisrunde Lichtung in das Feld geschnitten und dann auf einer Seite die gekappten Stängel im Halbkreis von ungefähr fünfunddreißig Metern Durchmesser in den Boden gerammt. Obwohl der Täter mit unvorstellbarer Grausamkeit vorgegangen war, konnte Hazen nicht leugnen, dass ihn die präzise geometrische Ausgestaltung beeindruckte. Auf der anderen Seite der Kahlstelle ragte ein kleiner Wald aus etwa ein bis anderthalb Meter hohen, oben zugespitzten Stöcken auf. Genau in der Mitte der Lichtung stand eine ähnliche halbkreisförmige Palisade, nur dass dort auf den Stöcken Krähen aufgespießt waren: mindestens zwei Dutzend, mit leeren Augenhöhlen und nach innen gekrümmten Schnäbeln. Und was auf den ersten Blick nach Stöcken aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Arrangement aus zugespitzten Indianerpfeilen.
Und mitten in dieser halbkreisförmigen, mit toten Krähen drapierten Palisade lag der Leichnam einer Frau. Zumindest vermutete Sheriff Hazen, dass es sich um eine Frau handelte; absolut sicher konnte er nicht sein, die Lippen, die Nase und die Ohren fehlten.
Das Mordopfer lag auf dem Rücken, den Mund so weit aufgerissen, dass man meinen konnte, auf den Eingang einer rosaroten Höhle zu starren. Das Haar der Toten war blond gefärbt, ein Büschel war ihr ausgerissen worden. Die Kleidung hatte der Mörder zerfetzt, aber nicht willkürlich, sonderndurch zahlreiche, immer im gleichen Abstand beigebrachte Schnitte. Sie hatten es offenbar mit einem Pedanten zu tun, dem jegliche Unordnung zuwider war. Bei dem Abstand zwischen Kopf und Schultern stimmte etwas nicht, die Proportionen waren verrutscht. Vermutlich hatte der Mörder der Frau das Genick gebrochen, und zwar mit einem einzigen harten Schlag. Denn wenn er sein Opfer erwürgt hätte, wäre das an den unvermeidlichen blutunterlaufenen Stellen zu erkennen gewesen.
Vom Rand der Lichtung führten Schleifspuren zum Fundort, und wenn man die Linie tiefer ins Maisfeld verlängerte, konnte man deutlich die Stellen ausmachen, an denen Stängel abgeknickt waren. Hazen schloss daraus, dass der Mord nicht hier, sondern anderswo verübt worden war. Den Troopern schien das nicht aufgefallen zu sein. Außerdem hatten sie mit ihrem ständigen hektischen Hin und Her neue Spuren im Maisfeld gelegt und die alten verwischt. Er wollte sich schon zu dem Captain umwenden, um ihn darauf aufmerksam zu machen, besann sich aber rechtzeitig eines Besseren. Es war nicht sein Fall, er hatte hier keine Ermittlungen anzustellen. Und wenn er dem Captain von den verwischten Spuren erzählt und ein cleverer Strafverteidiger davon Wind bekommen hätte, würde er – jede Wette – in spätestens zwei Monaten als Zeuge zu der Verhandlung gegen den Mörder vorgeladen werden, um dort seine Behauptung zu wiederholen. Solche spektakulären Mordfälle wurden immer rasch aufgeklärt, und Hazen hatte nicht die geringste Lust, einen irren Mörder durch seine Aussage zu entlasten.
Er zog sich den nächsten Nikotinstoß in die Lunge. Immer schön den Mund halten. Sollten die Troopies ruhig ihre Fehler machen. Sein Fall war’s ja nicht.
Als er gerade dabei war, seine Zigarettenkippe mit der Stiefelspitze in den Boden zu drücken, kam wieder ein Wagen die holperige Fahrspur herauf, wild schaukelnd und mit auf und ab tanzenden Scheinwerfern. Auf dem behelfsmäßigen Parkplatzstieg ein Mann im weißen Kittel und mit einem schwarzen Handköfferchen aus: McHyde, der Gerichtsmediziner.
Er sprach kurz mit dem Captain, dann gingen die beiden Männer zu der Leiche hinüber. McHyde sah sich den Tatort aus verschiedenen Blickwinkeln an, ging auf die Knie, zog der Toten Plastikbeutel über die Hände und die Füße, kramte etwas aus dem schwarzen Köfferchen, offenbar ein Thermometer, und schob es der Toten in den Anus. Hazen wusste, dass die Körpertemperatur bei Leichen üblicherweise anal gemessen wird, dennoch kam ihm die Prozedur wie eine Verletzung der Intimsphäre vor. Oh Mann, es gab schon komische Jobs!
Der Gerichtsmediziner begann, unterstützt von zwei, drei Sanitätern, den Leichnam für den Abtransport
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