Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
wach und schien interessiert, was los war.
»Ein Uhr.«
»Nachts?«
Pepe Carvalho zeigte auf die Strahlen, die die Sonne durch die Fensterläden auf den Fußboden des Schlafzimmers schickte. Charo sprang aus dem Bett. Ihre Nacktheit zitterte, und sie hüllte sie in einen Morgenmantel aus bestickter Seide. Dann zog sie die Pantoffeln des Mannes an, ordnete mit einer Hand ihr zerzaustes Haar und verließ das Zimmer. Carvalho lauschte halb aufgerichtet und etwas beunruhigt den bekannten Geräuschen des Türöffnens, des Gesprächs und des darauffolgenden Türschließens. Die Pantoffeln kehrten zurück, geräuschvoll über das Parkett schlurfend. Charos Gesicht zeigte Ärger und Enttäuschung.
»La Gorda.«
»Wer?«
»La Gorda, das dicke Lehrmädchen aus dem Friseursalon Queta. Ihr Chef will dich sprechen.«
»Wozu? Woher weiß sie überhaupt, daß ich hier bin?«
»In was für einem Viertel wohne ich hier denn? Schick sie zum Teufel, wenn dich die Sache nicht interessiert.«
Aber Pepe ging schon hinaus und stand vor einer dicken Heranwachsenden. Das bemerkenswerte Paar Brüste hob die Vorherrschaft der düsteren Verschlagenheit ihrer Augen nicht auf. Sie musterten Carvalhos halbnackten Körper mit komplizenhaftem Einverständnis.
»Mein Chef schickt mich. Ich soll Sie holen.«
»Wer ist dein Chef?«
»Señor Ramón, der Mann von Señora Queta.«
»Was will er?«
»Daß Sie kommen. Es ist dringend. Hier!« Sie gab ihm einen Zettel. Carvalho öffnete einen Fensterladen, um lesen zu können. ›Ich habe einen Auftrag, der Sie möglicherweise interessiert.‹ Carvalho legte den Zettel auf die Konsole im Vorflur und kehrte in dieWohnung zurück. Er zog seine Sachen an, die auf dem Schaukelstuhl übereinanderlagen, während Charo sich vor dem Schminkspiegel Mitesser ausdrückte.
»Ich komme morgen wieder. Ist heute viel los bei dir?«
»Vier oder fünf Kunden, ab sieben.«
»Ruhige Vertreter?«
»Denkste! Alles mögliche. Aber du kannst zum Schlafen kommen, wenn du willst.«
»Ich muß nach Hause. Falls Post da ist. Im Moment geht alles drunter und drüber.«
Carvalho ging Richtung Vorflur, bog aber plötzlich ab und betrat die Küche. Der Kühlschrank zeigte ihm ebensoviel strahlende Helligkeit wie gähnende Leere. Er steckte den Finger in ein Gebäck mit Sahnefüllung und leckte ihn ab. Dann entschied er sich für ein Glas eiskaltes Wasser und eine halbe Tafel Schokolade. Dabei bemerkte er die halbvolle Sektflasche, die zu Charos Standardausrüstung gehörte. Er entkorkte sie und nahm einen Schluck. Der Sekt war eiskalt und abgestanden. Den Rest schüttete er in den Ausguß. Als er sich umdrehte, sah er Charo im Türrahmen lehnen, das Gesicht voller Creme, in einen weißen Morgenmantel gehüllt.
»Vielen Dank auch fürs Wegschütten.«
»Der war hinüber.«
»Mir schmeckt er aber so.«
»Tut mir leid!«
Aber Charo war schon aus dem Türrahmen verschwunden und hatte ihm den Weg freigegeben. Carvalho trat in den Vorflur, wo La Gorda ungeduldig schnaubend auf ihn wartete. Im Aufzug wanderten seine Blicke verstohlen über die baumwollverhüllte Gebirgslandschaft der Heranwachsenden, die seine Blicke aus dem Augenwinkel verfolgte. Carvalho ließ sie auf dem Gehweg vorausgehen und folgte ihr. Sie ging mit den Allüren einer Diva, immer wieder bemüht, mit Kopfbewegungen ihre kurze und mit zuviel Haarfestiger besprühte Mähne zum Fliegen zu bringen. Die Stadt versank im mittäglichen Waffenstillstand, und das Kreischen der metallenen Rolläden der Geschäfte beschloß den Morgen des Arbeitstages. Sie gingen durch mehrere enge Gäßchen mit abgeblätterten Fassaden, bis sie die Calle de la Cadena erreichten. La Gorda beschleunigte den Schritt, und Carvalho sah in nächster Nähe das Schild des Salons Queta. Hinter den Milchglastüren erwartete ihn das Bild der letzten Kundinnen mit weißen Brustlätzchen unter Trockenhauben, die Gesichter aufgefressen von dem Helm. Carvalho betrachtete mit prüfendem Blick die Beine der Friseurinnen, die in roten Plastikschläppchen steckten. Für einen Moment blieb das Bild eines streitbaren Hinterns unter einem blauen Kittel auf seiner Netzhaut.
»Wer war die vierte?«
»Welche vierte?«
»Die Friseurin ganz hinten im Salon.«
»Queta«, antwortete La Gorda, ohne sich umzusehen, während sie die hölzernen Stufen zu einem neonbeleuchteten
altillo
, einer Art geschlossener Empore, hinaufstieg. Hinter einem Bürotisch aus der Zeit vor dem Koreakrieg hob ein Mann den
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