Picknick auf dem Eis (German Edition)
Stimme, wenn sie zu der Kuppel der Nationaloper hinaufflog, nur für ihn erklang und doch für alle hörbar war.‹ Schön! Sehr schön! Weiter so!«
Kühner geworden, wandte sich Viktor an Igor Lwowitsch: »Mir fehlen ein paar Informationen, und wenn ich mit jedem ein Interview machen soll, dann brauche ich dafür viel Zeit. Haben Sie in Ihrer Zeitung nicht eine Art Kartei…«
Der Chef lächelte.
»Natürlich«, sagte er. »Das wollte ich dir schon selber vorschlagen. In der Kriminalabteilung. Ich sage Fjodor Bescheid, damit du überall dran kannst.«
6
Viktors Leben organisierte sich nun wie von selber entsprechend seinem Arbeitsplan. Er arbeitete mit voller Kraft. Gut, daß Fjodor von der Kriminalabteilung ihm alles, was er hatte, anvertraute. Und er hatte viel: von den Namen der Liebhaber und Liebhaberinnen der Very Important Persons bis zu den konkreten Sündenfällen dieser Leute, aber auch anderen Ereignissen ihres Lebens. Von Fjodor erhielt Viktor die fehlenden Details aus den Lebensläufen, die wie besonders pikante indische Gewürze den Nachruf – ein langweiliges Gericht aus einer traurigen Grundsubstanz – in ein Gericht für Gourmets verwandelten. Und regelmäßig legte er dem Chef die nächsten Texte auf den Tisch. Alles lief ausgezeichnet. In seiner Hosentasche klimperte Geld – nicht sehr viel, aber für Viktors bescheidene Bedürfnisse völlig ausreichend. Das einzige, was ihn manchmal quälte, war der fehlende Ruhm, und sei es auch der eines anonymen Schriftstellers. Allzu zählebig waren seine Helden. Von mehr als hundert ›zu Tode‹ geschriebenen VIP s war nicht nur keiner gestorben, sondern nicht einmal einer krank geworden. Aber diese düsteren Gedanken brachten Viktor nicht aus dem Arbeitsrhythmus. Er blätterte fleißig die Zeitungen durch, schrieb Namen heraus, verbiß sich in die Biographien dieser Leute. ›Das Vaterland soll seine Helden kennen‹ – sagte er sich immer wieder.
Es war an einem Novemberabend. Draußen regnete es. Mischa-Pinguin nahm wieder mal ein Bad. Und Viktor dachte gerade an die sture Langlebigkeit seiner Helden. Plötzlich klingelte das Telefon.
»Igor Lwowitsch hat mir Ihre Telefonnummer gegeben«, sagte eine heisere Männerstimme. »Ich muß Sie sprechen. Ich habe ein Anliegen.«
Als er den Namen des vertrauten Redakteurs hörte, war Viktor gern zu einem Treffen bereit.
Eine halbe Stunde später begrüßte er bei sich zu Hause einen etwa vierzigjährigen, durchtrainierten, geschmackvoll gekleideten Mann. Der Gast brachte eine Flasche Whisky mit, und sie setzten sich gleich an den Tisch.
»Mischa«, stellte der Gast sich vor. Viktor lachte auf und wurde sofort verlegen.
»Entschuldigen Sie, so heißt mein Pinguin«, sagte er.
»Ich habe einen guten alten Freund, der sehr krank ist…«, begann der Gast. »Wir sind gleich alt und kennen uns seit unserer Kindheit. Er heißt Sergej Tscherkalin. Ich möchte seinen Nekrolog bei Ihnen bestellen. Nehmen Sie so was an?«
»Natürlich«, antwortete Viktor. »Aber ich brauche Fakten aus seinem Leben, möglichst etwas Persönliches.«
»Kein Problem«, sagte Mischa. »Ich weiß alles über ihn. Ich kann Ihnen alles erzählen…«
»Bitte.«
»Er ist der Sohn eines Schlossers und einer Kindergärtnerin. Seit seiner Kindheit träumte er von einem Motorrad, und als er die Schule beendet hatte, kaufte er sich schließlich eine ›Minsk‹, aber dafür mußte er ein bißchen was stehlen. Jetzt schämt er sich sehr für seine Vergangenheit. Dabei ist sein heutiges Leben auch nicht viel besser. Wir sind Kollegen, wir befassen uns mit der Gründung und Schließung von Trusts, nur daß ich dabei erfolgreich bin und er nicht. Vor kurzem hat ihn seine Frau verlassen, und nun ist er völlig allein. Er hatte noch nicht einmal eine Geliebte.«
»Wie hieß seine Frau?«
»Lena… Es geht ihm überhaupt ziemlich mies, dazu kommt noch sein Gesundheitszustand…«
»Was hat er denn?« fragte Viktor.
»Verdacht auf Magenkrebs und eine chronische Prostatitis.«
»Und was ist für ihn das Wichtigste im Leben?« fragte Viktor.
»Das Wichtigste? Ein silbriger ›Lincoln‹, den er nie besitzen wird…«
Sie begossen ihr Gespräch mit Whisky. Diesem Cocktail von Worten und Alkohol entstieg eine dritte Person. Neben ihnen am Tisch saß der von seiner Frau verlassene Pechvogel Sergej Tscherkalin in erbärmlichem Zustand, krank, einsam mit seinem unerfüllbaren Traum von einem silbrigen ›Lincoln‹.
»Wann soll ich
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