0819 - Der Tod des Heiligen
Zu den Menschen, die The Saint geliebt hatten, gehörten Männer, Frauen und Kinder. Menschen der unterschiedlichsten Altersstufen, vom Teeny bis zum Greis.
Auch Julie Sanders war eine der Personen, die The Saint voll und ganz vertraut hatten. Sie war zu ihm gegangen, als ihre Phantomschmerzen einfach nicht nachlassen wollten. Ärzte hatten nichts erreichen können, aber The Saint hatte sie allein durch das Auflegen der Hände durch Streicheln und beschwörende Worte von diesen schrecklichen Schmerzen befreit. Er hatte der Fünfundzwanzigjährigen wieder das Lachen und die Freude am Leben zurückgegeben, und dafür war Julie ihm dankbar. Sie gehörte zu denjenigen, die ihn besonders liebten, ihm glühende Briefe schrieben, auch Geld spendeten und allen Bekannten und Verwandten erklärten, wie toll dieser charismatische Mensch doch war.
Nun lebte er nicht mehr.
Die Nachricht hatte Julie wie ein Hammerschlag getroffen. Nach dem Aufstehen war sie nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen.
Sie hatte sich etwas verspätet gehabt und war wie eine Joggerin in Richtung der U-Bahn-Haltestelle gehetzt.
London am Morgen, das bedeutete nicht nur volle Züge, auch auf den Bahnsteigen drängten sich die Menschen, und fast jeder Fahrgast hatte sich eine Zeitung mitgenommen.
Man las im Stehen, man las im Sitzen, man las, während man auf den Zug wartete. Nur beim Einsteigen wurden die Zeitungen aus dem Blickfeld genommen.
Julie Sanders war so schnell gelaufen, daß sie noch vor dem Eintreffen der Wagenschlange den Bahnsteig erreichte. Mit keuchendem Atem blieb sie stehen, die Tasche über die Schulter gehängt, die Schultern zuckend.
Sie mußte erst wieder zu Atem kommen, dann lief alles besser. Sie schaute sich um.
Mitten in der Bewegung blieb sie stehen.
Sie hatte die Schlagzeile gelesen.
THE SAINT IST TOT!
In dicken Lettern sprang ihr diese Botschaft entgegen. Julie konnte es nicht glauben, las einmal, zweimal, versuchte auch, den Text unter der Headline zu entziffern, doch die Worte verschwammen vor ihren tränenden Augen. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, der Boden wäre ihr unter den Füßen weggezogen worden. Die Geräusche – immer da, nie abreißend – zogen sich zurück. Sie wurden zu einer rauschenden Masse, die ihre Seele mitsamt dem Körper einfach wegtrug und irgendwo ablenkte.
The Saint lebte nicht mehr!
Immer wieder hämmerte diese schreckliche Tatsache und Botschaft in ihrem Kopf. Julie fühlte sich von aller Welt verlassen, wischte über ihre Augen und merkte kaum, daß sie von den Gleisen wegging und ein Ziel ansteuerte, wo sie eine Zeitung erwerben könnte. Sie legte Münzen hin, nahm die Zeitung und lehnte sich an eine Mauer, nicht weit entfernt von drei Jugendlichen, die eine Nacht auf Decken liegend im Schacht verbracht hatten.
Die Zeitung brauchte sie nicht aufzuschlagen. Gleich auf der ersten Seite stand der Bericht. Alle Gazetten hatten den Tod als eine Hauptschlagzeile genommen, und Julie mußte sich zusammenreißen, um den Artikel überhaupt lesen zu können.
Sie wischte über ihre Augen, bevor es ihr gelang, die Zeilen einigermaßen zu lesen. Niemand wußte, woran The Saint – der Heilige gestorben war. Er hatte seinen Tod aber vorausgesehen und in einer letzten Botschaft erklärt, daß er sich jetzt verabschieden würde, in eine andere Welt zu besuchen, aus der er gestärkt wieder zurückkehren wurde.
Man würde ihn beerdigen, er würde sich darüber freuen, aber er würde zurückkehren und sich bei seinen Getreuen melden.
Julie ließ die Zeitung sinken. Ihre Augen waren vom langen Weinen rot, und sie runzelte die Stirn, als sie über das Gelesene nachdachte. Es war nicht zu fassen. Der Heilige lebte nicht mehr. Er war
… er war aus dem Leben geschieden, einfach so. Und er hatte diejenigen verlassen, die auf ihn vertraut hatten. Einfach so, weg und tot…
Julies rechte Hand sank nach unten. Die Zeitung rutschte ihr aus den Fingern. Sie flatterte wie ein müder Vogel zu Boden. Den gesamten Bericht hatte sie nicht gelesen, sie wollte es auch nicht, ihr reichte das Wissen, daß The Saint nicht mehr lebte, daß er bald in die feuchte Erde gesenkt wurde, und nie glaubte, die Feuchtigkeit und Kälte eines Grabs zu spüren.
Und noch etwas geschah mit ihr.
Die Schmerzen kehrten wieder zurück. Die Phantomschmerzen, die ihren Leib durchbohrten, als bestünden sie aus zahlreichen Messerklingen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie würgte, drehte sich,
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