Pilot Pirx
weiter oben durchschnitt eine andere Gesteinsart die Wand – rötlicher Diabas, heller als Granit –, sie zwängte sich an die Oberfläche und verlief als ein Band von ungleicher Breite quer durch die ganze Flanke des Absturzes.
Eine Zeitlang hielt der Gipfel mit seiner erhabenen Linienführung Pirxens Blick gefangen, aber während sie sich ihm näherten, geschah das, was für gewöhnlich mit einem Berg geschieht: Er wurde zusehends kleiner, zerfiel in der ungeheuren perspektivischen Verkürzung in einzelne, einander verdeckende Partien, wobei der Fuß des Berges seinen bisherigen Ebenencharakter verlor: Felspfeiler erhoben sich, und eine bunte Vielfalt von Sprüngen, Borden und blinden Kaminen, ein Chaos alter Schründe tat sich auf, und über all diesem Durcheinander klumpiger Verwerfungen schimmerte eine Weile, von den ersten Sonnenstrahlen vergoldet, der höchste Grat, erstarrt und seltsam milde, bis auch er schließlich verdeckt wurde und verschwand. Pirx konnte die Augen nicht mehr von diesem Koloß losreißen. Ja, selbst auf der Erde wäre diese Wand aller Anstrengung wert gewesen, vor allem durch jenen jäh vorspringenden Diabaswall. Der Abschnitt von ihm bis hinauf zu dem von der Sonne vergoldeten Gipfel schien kurz und nicht schwierig, ein Problem waren jedoch die Überhänge, namentlich der größte, dessen unterer Rand vor Eis oder Nässe glänzte und der schwärzlich rot war wie geronnenes Blut.
Pirx ließ seiner Phantasie freien Lauf. Dies mußte ja nicht unbedingt die Steilwand eines namenlosen Bergriesen unter einer fremden Sonne sein, sondern ein durch Sieg und Niederlage berüchtigter Gipfel, der jedem Alpinisten ein ganz eigenes Gefühl einflößt, vergleichbar etwa jener Empfindung, die einen vor einem vertrauten Gesicht überkommt, in dem jede Falte und Furche ihre Geschichte hat. Die feinen, gerade noch sichtbaren Schlangenlinien der Risse, die dunklen Fäden der Felsbänder und die flachen Rinnen konnten jene höchstgelegenen Punkte sein, die bei der soundsovielten Besteigung erreicht worden waren, oder Stellen, an denen man Biwak gemacht und schweigend mit sich zu Rate gegangen war, Schlüsselstellen stürmischer Gipfelkämpfe oder Orte trüber Rückzüge und Niederlagen, die man hatte hinnehmen müssen, obwohl man sämtliche taktischen Kniffe und technischen Tricks angewandt hatte. Das Ganze hätte ein Gipfel sein können, der durch all dies bereits so fest mit dem Geschick der Menschheit verbunden war, daß jeder Bewerber, den er einmal abgewiesen hatte, immer und immer wieder zu ihm zurückkehrte, stets mit demselben Vorrat an Selbstvertrauen und Siegeszuversicht, und bei jedem neuerlichen Sturmlauf brachte er die Marschroute fix und fertig im Kopf mit und übertrug sie auf das tote Felsrelief. Diese Wand hätte eine reiche Geschichte an Umgehungen der verschiedensten Varianten haben können, einschließlich einer Chronik der Siege und Opfer; Fotografien konnte es davon geben, auf denen kleine Punkte die Trassen markierten und kleine Kreuze die höchsten Standplätze bezeichneten, die jemals erreicht worden waren ... Pirx vermochte sich das alles mühelos vorzustellen, mehr noch, er fand es komisch, daß es in Wirklichkeit nicht so war.
Massena ging vor ihm, leicht vornübergeneigt, immer im grelleren Licht, das jegliche Illusion von etwaigen »leichten Passagen« in der Wand zunichte machte – dieses Trugbild von vermeintlicher Leichtigkeit, diesen Trugschluß, es gäbe keine Widerstände zu überwinden und keine lebensgefährlichen Abschnitte dort oben, rief der bläuliche Dunst der Entfernung hervor, der schweigend jedes Fragment des glitzernden Felsgesteins einhüllte. Der junge, klare Tag hatte die Männer bereits erreicht, sie warfen lange schwankende Schatten unterhalb der Spitze des Schutthangs. Aus der Wand mündeten zwei Kare in die Geröllhalde ein, in denen noch finstere Nacht lag. Der tote Geröllstrom staute sich dort und verschwand plötzlich wie von der tiefsten Schwärze verschluckt.
Schon längst umfing der Blick nicht mehr das ganze Bergmassiv, die Proportionen hatten sich verändert. Die Wand, von weitem jeder anderen ähnlich, zeigte jetzt ihr unnachahmliches, eigenständiges Gesicht; ein mächtiger Felspfeiler reckte sich ihnen entgegen, wurde immer riesiger, erhob sich aus einer Handvoll kreuz und quer liegender flacher Platten, schoß in die Höhe, verbreiterte sich, wuchs und wuchs, bis er schließlich alles andere beiseite geschoben und verdeckt hatte und
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