Pinguine frieren nicht
dir?«
»Nein… Er ist hier irgendwo in der Stadt…«
»Hast du ihn verloren?«
»Mhm, aber ich finde ihn wieder!«
»Du mußt ihn finden und nach Hause bringen! Nina hat nämlich eine Katze mitgebracht, und die kratzt. Mischa hat nie gekratzt!«
»Ja«, bestätigte Viktor düster, »Mischa hat nie gekratzt. Ist Tante Nina da?«
»Nein, sie ist einkaufen. Kommst du?«
[20] »Ja«, versprach Viktor. »Nur nicht gleich. Und vielleicht dann, wenn Tante Nina und dieser Onkel Kolja nicht da sind… Bei euch wohnt jetzt also Onkel Kolja?«
»Ja«, sagte Sonja. »Aber er ist nett, er hat mir Rollschuhe gekauft. Gestern ist er weggefahren, für zwei Tage, und er hat versprochen, daß er mir Muscheln mitbringt.«
»Aha, also ist er am Meer… Arbeitet er wirklich bei der Miliz?«
»Nein, das sieht nur so aus. Er ist so ein Wächter, aber kein einfacher, ein Chef… Oh, Tante Nina kommt! Willst du mit ihr reden?«
»Nein, Sonjetschka, ich rufe wieder an!« Viktor beendete das Gespräch abrupt und legte den Hörer zurück auf den Apparat.
Er sah hinüber zu Mama Tonja, die ganz ungerührt am Herd stand. Er setzte sich wieder an den Tisch und heftete den Blick auf seine Fenster.
»Wenn du magst, kannst du hier übernachten, dorthin willst du ja vielleicht jetzt nicht«, sagte Mama Tonja und drehte sich zu ihm um.
»Danke… Ich lasse die Tasche hier, ja? Bis morgen, und morgen komme ich wieder. In Ordnung?«
»Natürlich, komm nur wieder her!« antwortete sie und nickte.
3
Er mußte die Anspannung loswerden. Ohne Ballast wanderte Viktor den Kreschtschatik entlang, nur die zwei [21] Pässe steckten in je einer Hosentasche. Und in der Jacke klimperten die Kasinojetons, die mit ihm in die Antarktis und zurück gereist waren. Als er von Mama Tonja fortging, hatte er das Tütchen mit den Jetons aus der Sporttasche gezogen und eingesteckt. Das war fast automatisch geschehen, aber während er jetzt über den abendlichen Kreschtschatik spazierte, der ihm mal vertraut, mal ganz fremd vorkam, verliehen die Jetons in der Tasche seinem Spaziergang einen Hauch von Leidenschaft und Abenteuer. In der Innentasche der Jacke steckte noch ein bedeutenderes Stück – die Visacard des Bankiers und Polarreisenden Bronikowski. ›Neunundachtzig siebenundneunzig‹ murmelte Viktor ihren Pin-Code vor sich hin. Sein Gedächtnis funktionierte noch normal. Im Umschlag neben der Karte steckte der Brief des Bankiers an seine Frau. Viktor hatte ihn nicht mal gefragt, ob er Kinder hatte. Das würde er schon noch erfahren, wenn er nach Moskau kam, die Frau fand, ihr den Brief gab und ihr alles erzählte. Vermutlich würde sie dann weinen… Aber zuerst mußte er Mischa finden, ihn um Verzeihung bitten und alles wiedergutmachen, wenn er konnte. Vielleicht flog ja schon bald die nächste Expedition in den fernen, kalten Süden dieses kleinen Planeten?
»Wie wäre es mit einem Hundertprozent-Gewinnlos?« ertönte in der Nähe eine aufdringliche Stimme.
Viktor blieb stehen. Ein junger Mann von etwa zwanzig, in Jeans, kariertem Hemd und lässig übergeworfenem Jackett wies lächelnd mit dem Blick zur Seite. Viktor sah hin und erblickte die traute Runde von Losbetrügern, die sich neben dem Klapptischchen herumdrückte. [22] Als sie seinen Blick auffingen, ›spielten‹ sie sofort lebhaft los.
»Danke, Hundertprozent-Gewinnlotterie spiele ich nicht«, entgegnete Viktor. »Und ich gewinne ohnehin immer!«
»Das kann man ändern«, sagte der junge Mann.
»Kann man, muß man aber nicht.« Viktor schenkte dem Mann ein aufrichtiges Lächeln, machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
Es war seltsam, aber dieser Wortwechsel munterte Viktor auf. Er dachte daran, wie ungerührt er damals im Roulette gewonnen, welche Erschöpfung die endlose Gewinnserie bei ihm ausgelöst hatte. Das Glück lächelte den Narren und Anfängern. Als Anfänger konnte er ja nun nicht mehr gelten, als Narr dagegen schon. Aber das ist ja auch kein Schimpfwort. Jeder Mensch ist ein Narr, nur machen sich die einen gelegentlich aus Spaß zum Narren, die anderen in vollem Ernst und lebenslang.
Viktor wanderte ins Podol-Viertel hinunter, aber hier wartete eine böse Überraschung auf ihn: Es gab die Weinbar ›Bacchus‹ nicht mehr. An ihrer Stelle glänzte jetzt ein teures Kleidergeschäft mit schicken Schaufenstern. Er ging über die Konstantinowska-Straße, stieg in einen Bierkeller hinunter und entdeckte zu seiner Zufriedenheit, daß man auch in einer Bierstube nach
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