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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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Mauer vor uns. Ich überlegte krampfhaft,
was ich sagen konnte, irgendwas.
    »Als Kind hab ich Flugzeuge geliebt«, sagte er schließlich. »Hab ich
dir das je erzählt?«
    »Nein«, sagte ich und wandte mich ihm zu.
    »Ich flehte Leute an, mich an Samstagen zum Flughafen mitzunehmen.«
    »Freak.«
    »Stimmt.« Wir verstummten wieder. Seine großen Hände ruhten auf
seinen Knien, und die Finger meiner rechten Hand, die ihm am nächsten war,
brannten.
    »Deine Socken passen nicht«, sagte ich zu ihm.
    »Du hast deinen Rucksack wieder?«, fragte er und nickte in Richtung
des bekritzelten Schulrucksacks zu meinen Füßen. Ich zuckte die Schultern und
hob kurz [351]  meine Hand von der Bank, aber ohne sie danach auf seine zu legen,
wie ich es eigentlich wollte.
    »Ich hatte nicht den Mut, mich zu stellen«, sagte er. Meine Hand,
die wieder auf der Bank lag, schob sich ein wenig näher an David. Mit den
Fingerspitzen berührte ich sein Hosenbein. Ich spürte seine Wärme durch den
Stoff, und er schaute auf meine Hand hinab.
    »Warum ist dein Handy abgestellt?«, fragte ich.
    »Kein Empfang.«
    »Lügner.«
    »Lass uns nicht über Lügner reden«, sagte er.
    »Nein«, sagte ich.
    »Als ich damals das Foto von Lily machte, haben wir kaum ein Wort
gewechselt. Wäre das auf dem Highway nicht passiert, hätte ich nie wieder an
sie gedacht. Zwischen ihr und mir ist nichts gewesen, weißt du das eigentlich?«
    »Lass uns darüber jetzt auch nicht reden«, sagte ich.
    »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er, ließ aber zu, dass meine
Hand sich hob und sich ganz sacht auf seinen Handrücken legte, meine blassen Finger
glitten zwischen seine dunklen. Seine Hand zuckte, als unsere Haut sich
berührte, doch er nahm sie nicht weg. Es war wie Wasser gegen den Durst oder
wie die erste Zigarette des Tages.

[352]  43
    Noch immer waren alle Fenster verrammelt, und auch das
blonde Mädchen vom Empfang war längst aus der schummrigen Lobby des Pink Hotel
verschwunden. Ich atmete eine Lunge voller Staub ein und drückte auf einen
Lichtschalter. Es knallte kurz und blieb dunkel. Im Aufenthaltsbereich links
von der Lobby summte eine konfuse Biene zwischen den von Klebeband zusammengehaltenen
Fensterscheiben und jagte kleine Goldklümpchen kalifornischen Sonnenscheins,
die von der Dunkelheit verschluckt wurden, sobald sie mit der Biene in
Berührung kamen. Die durchgesessenen Sofas standen immer noch in der Ecke des
großen Raums, doch die Getränkeautomaten und der Fernseher waren weg. Die
Dielen waren von Zigarettenkippen und Glasscherben übersät, die unter meinen
Schuhsohlen knirschten, als ich drauftrat.
    In dieser Ecke hatte während Lilys Totenwache eine der mit Eis und
Bier gefüllten Badewannen gestanden. Auf dem Holz sah man immer noch kleine
Abdrücke der Füße, als wäre die Wanne erst kürzlich entfernt worden. Dort
drüben hatte ein Riese Wodka aus der Flasche getrunken und ein Stück weiter
eine magere Frau vor sich hin getanzt. Bei der Treppe hatte ich den Mann mit [353]  dem
Nasenpiercing und den Rothaarigen belauscht, der sich beim Gehen in die Brust
warf. Auf dem Fensterbrett im ersten Treppenaufgang hatte ich gesehen, wie
Leute mit ihren Fitnessstudio-Mitgliedsausweisen weißes Pulver zu Linien
schoben, und auf dem ersten Absatz den Rothaarigen gehört, wie Lily sich bei
ihrer Hochzeit verspätet hatte, weil sie keine passende Unterwäsche fand.
    Eine der Stufen auf dem Weg in den ersten Stock war jetzt lose, und
ich wäre fast darüber gestolpert. Ich schaute in Zimmer, wo vor so vielen
Nächten Partygäste zusammengedrängt getanzt hatten, und Badezimmer, in denen
Leute bewusstlos herumgelegen oder sich geküsst hatten. Ich fand den Weg bis in
die oberste Etage des Hotels und zu der Tür mit der Aufschrift »Privat«, die im
Luftzug von einem kaputten Fenster hin- und herschwang. Die Luft roch nach
Meerwasser.
    Fahrrad und Inlineskates waren aus dem Flur von Richards und Lilys
Wohnung verschwunden, genau wie Lampenschirme, Teppiche und Küchentisch. Da war
kein Strapsgürtel über einer Stuhllehne, keine Nerzstola krümmte sich wie ein
überfahrenes Tier auf dem Fußboden neben dem Bett. Da stand kein Bett. Keine
Kleider oder Schuhe lagen auf burgunderroten Teppichen, es gab keine übervollen
Aschenbecher, kein verschüttetes Parfüm. Da war kein goldgerahmter Spiegel
mehr, aus dem ich mir entgegenstarrte, fehl am Platz in Lilys Welt. All diese
Leere, diese Seeluft und der Staub waren meine Welt.
    Könnte ich

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