Liebe ist der größte Schatz
1. KAPITEL
London, Mai 1822
Asher Wellingham, neunter Duke of Carisbrook, stand neben seinem Gastgeber Lord Henshaw am Rand der Tanzfläche. Unauffällig betrachtete er die junge Dame, die soeben ohne Chaperone neben dem Orchesterpodest Platz genommen hatte.
„Wer ist das, Jack?“, fragte der Duke betont gleichgültig. In Wahrheit war ihm die Unbekannte bereits aufgefallen, kaum dass sie den Salon betreten hatte – eine so schöne Frau in solch schlichter Aufmachung sah man nicht oft auf einer Gesellschaft. Ungewöhnlich war auch, dass sie offensichtlich Vergnügen daran fand, still für sich dazusitzen und die Gäste zu beobachten.
„Lady Emma Seaton, die Nichte der Countess of Haversham“, beantwortete Lord Henshaw die Frage seines Freundes und fügte hinzu: „Sie kam vor ungefähr sechs Wochen nach London, und seither bemühen sich die Gentlemen scharenweise darum, ihr vorgestellt zu werden.“
„Wo lebt sie?“
„Auf dem Land, würde ich denken. Wie es aussieht, hat sie noch keine des Frisierens kundige Zofe hier in London angestellt – ihre Haartracht ist, sagen wir, etwas außergewöhnlich.“
Asher ließ nun den Blick über das üppige Durcheinander nachlässig hochgesteckter blonder Locken schweifen, und im Stillen pflichtete er Lord Henshaw bei, denn gekonnt war die Frisur in der Tat nicht arrangiert. Erstaunlicherweise betörte ihn der Anblick ihrer sonnengebleichten goldenen Locken im gleichen Maße, wie er ihn beunruhigte.
Es geschah selten, dass Menschen ihn zu überraschen vermochten, geschweige denn, dass sie ihn faszinierten. Dieses bemerkenswert unbefangene Mädchen indes, das völlig unpassend gekleidet war, stimmte ihn neugierig. Bislang war ihm keine Frau begegnet, die während der Mahlzeit ihre Handschuhe anbehielt und sogar den verhüllten Finger ableckte, nachdem die Marmeladenfüllung eines Kekses darauf getropft war.
Sie hatte nicht vornehm auf dem Teller herumgestochert wie jede andere ihrer Geschlechtsgenossinnen in diesem Raum, sondern sich von sämtlichen Speisen, die serviert worden waren, reichlich genommen, um sich anschließend dem Menü zu widmen, als ginge es um Leben und Tod. Womöglich hatte es in ihrem Leben Zeiten gegeben, in denen nicht genug zu essen vorhanden war. Dies würde ihren gesunden Appetit und den Eifer, mit dem sie alles verzehrt hatte, erklären.
Leicht gereizt stellte Asher fest, dass die junge Dame nicht nur seine Blicke auf sich lenkte, sondern die zahlreicher Ballgäste, und kaum dass sie sich erhob, wurde das Wispern aufgeregter. Ihre hohe schlanke Gestalt betonte den viel zu kurzen Saum ihres Kleides, über dessen unschickliche und unmodische Länge die Umstehenden, wie er hören konnte, spitze Bemerkungen machten. Lady Emma Seaton ist sich ihrer Erscheinung offenbar nicht gewahr, dachte er und fluchte unhörbar. Was kümmerte ihn diese Frau? Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ihr irgendwo schon einmal begegnet war, denn sie kam ihm auf irritierende Weise vertraut vor. Woher mochte er sie kennen? Er versuchte, ihre Augenfarbe auszumachen, doch aus dieser Entfernung war es ihm unmöglich.
Als die Musik einsetzte, wandte Asher sich ab und überließ Lady Emma dem Wolfsrudel der anwesenden Gentlemen, das sich allmählich anschickte, sie einzukreisen. Die Countess of Haversham soll verdammt sein, dass sie ihre Nichte so vernachlässigt, dachte er noch, bevor er sich von einem Lakaien ein Glas Wein reichen ließ.
Trauben von Menschen drängten sich lachend und redend durch den Saal, sodass die Musiker des Streichquartetts kaum gegen den Lärm ankamen.
Die Stirn in Falten gelegt, nahm Emerald Platz und schloss die Augen, um den schönen Klängen aufmerksam zu lauschen. Die Gäste auf dieser Gesellschaft schienen Musik nicht sehr zu schätzen und nicht zu verstehen, dass, wenn Stille herrschte, die leisen Töne viel besser zur Geltung kämen. Wenn sie nicht zu hören war, verarmte die Melodie und wurde so oberflächlich wie all die Leute hier.
Das Stück klang fremd in Emeralds Ohren, war sie doch karibische Instrumente und Lieder gewohnt. Gleichwohl stimmte der beschwingte Rhythmus sie heiter. Sie glaubte fast, ihre Mundharmonika an den Lippen zu spüren und die Töne sanft über dem wogenden Meer ausklingen zu hören. Bei der Erinnerung an Jamaika verspürte sie einen leisen ziehenden Schmerz in der Herzgegend.
Nein, ich darf nicht an zu Hause denken, mahnte sie sich insgeheim und straffte sich, um lustlos die vielen
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