Ploetzlich Liebe
in der Sonne herum, die von meinen Qualen nicht die geringste Notiz nehmen. An diese Massen habe ich mich noch nicht gewöhnt. In Raleigh gibt es vierhundert Studenten, hier vermutlich beinahe zwanzigtausend. Ich kenne nicht mehr jedes Gesicht, sondern bin völlig verloren in einem Meer von gebräunten Fremden.
Doch erstaunlicherweise fühle ich mich nicht so allein, wie ich erwartet hatte. Ehrlich gesagt, während ich mich durch die Menge schlängele und in der Ferne den Ozean funkeln sehe, stellt sich eine seltsame Zufriedenheit bei mir ein. Diese Anonymität, diese Freiheit ist etwas völlig Neues für mich. Den Campus von Raleigh kann ich nicht überqueren, ohne von jemandem angehalten zu werden, der mit mir über Kurse oder Veranstaltungen reden will, aber hier zeigt niemand auch nur einen Funken Interesse an mir, wenn ich vorbeiflitze. Ich könnte sonst wer sein, nicht einfach nur die Streberin Emily Lewis, die ich den größten Teil meines Lebens gewesen bin. Nach allem, was die Leute hier von mir wissen, könnte ich durchaus jemand sein, der so etwas gewohnheitsmäßig macht: ein Mädchen, das mir nichts dir nichts auf die andere Seite der Erde fährt, eine leichtsinnige Abenteurerin.
Leichtsinnig … das nötigt mir schon ein hohles Lachen ab. Dies hier ist die erste wirklich abenteuerliche Sache, die ich in meinem Leben mache – und nur wegen eines Jungen. Ich bleibe in der Nachmittagssonne stehen und denke an die
Kommentare meiner Schwester und an das, was Sebastian vor gerade mal einer Woche gesagt hat, an dem Abend, an dem er mit mir Schluss gemacht hat. Weil ich ein Kontrollfreak bin. Weil ich Angst vor Nähe habe. Weil dieses Gespräch auf meinem Bett stattfand und nicht darin, und weil ich mehr Sachen anhatte, als er mochte. Andere Mädchen wären losgezogen und hätten viel zu viel Geld für ein tief dekolletiertes Kleid ausgegeben oder für einen Haarschnitt, um mal zu zeigen, wie spontan sie waren, aber ich nicht. Nein, ich musste ja gleich am nächsten Morgen ans Telefon gehen, als die Frau vom Austausch weltweit anrief, und sofort zusagen. Ja, ich war einverstanden mit dem Tausch in letzter Minute. Ja, ich war einverstanden mit Kalifornien. Holt mich raus aus England!
Und so sehr ich – und mein aufgeklärtes feministisches Selbst der dritten Generation – es auch verabscheute, zuzugeben: meine Schwester hatte recht. Ich machte das alles nur wegen Sebastian.
Doch ich ignorierte die Beklemmung in meiner Brust, die immer hochkommt, wenn ich an das denke, was er gesagt hat, gehe an einer Gruppe von Jungs in tief auf der Hüfte sitzenden Jeans vorbei, die einen Frisbee werfen, und stiefele in die klimatisierte Kühle des Internationalen Studentenbüros. Es spielt keine Rolle, wie ich hierhergekommen bin: Ich sitze fest. Bis April. Da kann ich doch wenigstens dafür sorgen, dass ich eine ordentliche Ausbildung bekomme, während ich hier bin.
Tasha
So ist das also, wenn man studiert.
Also, bitte nicht falsch verstehen, ich hab schon hart gearbeitet. Der Universitätseignungstest, Semesterarbeiten, Klausuren … dass ich nicht auf der Bestenliste oder so stehe, heißt noch lange nicht, dass ich nicht Zeit auf so was verwendet hätte. Aber es ist ein Unterschied, wenn man Sachen paukt, die man irgendwie weiß (und nur noch besser wissen muss), oder drei Tage am Stück durcharbeitet, um irgendwelche Konzepte in den Kopf zu kriegen, von denen man noch nie was gehört hat. Und nach all dem, nach all der Arbeit, weiß man dann trotzdem ganz genau, dass der Aufsatz nichts taugt.
Ich bin wieder in dem schlecht beleuchteten Arbeitszimmer
von Professor Elliot, dieses Mal mit ganz wenigen Studenten zur Gesellschaft/Tarnung. Die Sportskanone und der Blonde, alias Carrie und Edwin. Ja, Edwin. So was tun die den Kindern hier an. Egal, ich hab meinen wärmsten Pullover an, denn aus irgendeinem Grund haben die Engländer moralische Bedenken gegen Heizen und es regnet immer noch. Vor den schmalen Fenstern ist es finster und grau. Carrie hat gerade ihren Essay vorgelesen, in dem viele Wendungen wie »zugrundeliegende ideologische Dychotomien« und »inhärente Werte« vorkamen, und nun schaut Professor Elliot uns erwartungsvoll an.
»Irgendwelche Kommentare?«, fragt sie und ich versuche Augenkontakt zu vermeiden. Das wird langsam zur Routine, aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Gibt Routine dem Leben nicht Struktur und Richtung?
»Nun ja, die habe ich.« Edwin ergreift sofort das Wort, blättert
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