Ploetzlich Liebe
flaches Werkzeug, mit dem ich den Müll von den Wänden kratzen kann. Wahrscheinlich ist alles mit Blu-Tack festgeklebt, und ich weiß, welche Fettflecken das Zeug hinterlässt. Während ich mich für mein neues Projekt erwärme, sprudelt nebenan Morgans Strom von »echt« und »mega!« unaufhörlich weiter. Systematisch kratze ich Schichten von Zeitschriftenausschnitten und Fotos ab, ordne das Chaos, bis sich darunter helle cremefarbene Wände offenbaren, die kühl und beruhigend wirken.
»He, Em!« Ohne anzuklopfen stößt Morgan die Tür auf. Sie hat den Kopf auf die Schulter gelegt, denn dort klemmt das Telefon, während sie ihre Nägel in einem schrillen Himbeerton lackiert. Ist schon halb fertig. »Wir gehen was essen – willst du mit?«
»Geht nur.« Ich schüttele den Kopf. »Ich muss noch auspacken. Aber danke.«
»Na gut. Kein Problem!« Morgan zuckt die Achseln, geht aber nicht wieder raus. Stattdessen dreht sie sich zu dem riesigen Schminkspiegel um, beendet die Lackarbeiten und fängt an, eine frische Schicht Mascara aufzutragen. Platinsträhnchen hellen ihr blondes Haar auf, das zu losen Ringeln gedreht weit über ihren Rücken fällt und auf ihrem blassblauen Tanktop synthetisch grell glänzt. Durch die Sonnenbräune und das sorgfältige Make-up wirkt sie wie nicht ganz echt – wie eine perfekte Puppe. Und sie ist nicht die Einzige. Diese Stadt scheint Austragungsort irgendeines Junior-Step-ford-Experiments zu sein.
»Nein, sie bleibt hier.« Morgans Stimme wird leiser, als sie sich wieder dem Telefon zuwendet. »Nein … hm … nein, sie ist irgendwie still. Ich weiß … sie macht sauber .«
Ich ignoriere ihre gedämpften Kommentare und arbeite weiter, bis sie geht, schwinge mich auf den wohligen Rhythmus von Abziehen, Wischen usw. ein, bevor ich meine eigenen Sachen auspacke. Eine warme Brise bauscht die Vorhänge und ein vertrauter Popsong driftet von der Wohnung unter mir herauf, sonst stört nichts meinen Frieden. Dann ist mein Zimmer schließlich ordentlich und sauber, Natashas zahlreiche Besitztümer sind unter dem Bett verstaut und meine Kleider und Studiensachen an ihrem Platz.
So.
Ich lege eine Atempause ein und betrachte mit tiefer Befriedigung die Ordnung, die ich aus dem Nichts und den Hinterlassenschaften meiner Tauschpartnerin geschaffen habe. Wenn nicht alle Sachen an ihrem Platz sind, kann ich mich nicht konzentrieren. Alles andere an diesem Austausch mag ja die totale Katastrophe sein, aber dieses Durcheinander hab ich im Griff.
Mein eigenes Telefon macht sich bemerkbar, nicht mit der dröhnenden Rapmusik, die Morgans Handy heute mindestens schon ein Dutzend Mal ausgespuckt hat, sondern mit einem normalen Piepton.
»Hallo, Elizabeth.« Ich lasse mich auf mein frisches, neues Bettzeug fallen und bemerke einen Fleck an der Decke, um den ich mich später kümmern werde.
»Santa Barbara? Emily, hast du den Verstand verloren?« Meine große Schwester verschwendet keine Zeit auf »Wie
war dein Flug?«-Freundlichkeiten, ihre Missbilligung schrillt klar vernehmlich durch die Leitung aus England. »Das ist nicht mal Ivy League! Was für einen Sinn soll es denn haben, drei Monate auf einer Schule für Strandgammler und Partyschlampen zu verschwenden?«
»Ist nicht meine Schuld«, führe ich an und recke die nackten Füße in die Luft. Warum nicht die Kritik mit ein paar straffenden Übungen verbinden? Alle verfügbare Zeit muss konstruktiv genutzt werden, das ist der Schlüssel zum Erfolg. »Professor Tremain hat meine Bewerbung vergessen. Er hat sie erst nach Bewerbungsschluss eingeschickt, da war an den guten Schulen schon alles vergeben. Ich hab Glück gehabt, dass ich diesen Platz gekriegt habe. Hier hat das Semester längst angefangen.« Im Stillen dankte ich für irgendeinen schlüpfrigen Zwischenfall, der Natasha nach England flüchten ließ. Gleich nach meiner Ankunft hatte Morgan irgendwas von Whirlpools und Fernsehstars gefaselt, aber ich war so übermüdet und schlecht gelaunt gewesen, dass ich nicht richtig hingehört hatte.
»Glück?«, brüllt Elizabeth. Ich höre Töpfe klappern und stelle sie mir in ihrer gepflegten Granitküche vor, in der sie nach einer Fünfzehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus mal eben ein Drei-Gänge-Menü zaubert. »Du hättest überhaupt nicht fahren sollen. Das zweite Jahr ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich gehen zu lassen, weißt du. Da sollte man zusätzliche Kurse belegen, sich in der Studentenpolitik und Diskussionsforen
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