Polarsturm
Kompass, eine goldene Uhr und ein paar Briefe holte, die er an seine Familie geschrieben hatte. Er schlug das Logbuch auf und machte mit zittriger Hand einen letzten Eintrag, kniff dann niedergeschlagen die Augen zu und schloss das in Leder gebundene Buch. Die Marinetradition gebot, dass er das Logbuch mitzunehmen hatte, doch er legte es stattdessen auf eine Mappe mit Daguerreotypien in seinen Schreibtisch und schloss es ein.
Elf Besatzungsmitglieder, der bei Verstand gebliebene Überrest von ursprünglich achtundsechzig Mann, erwarteten ihn in der großen Kabine. Der Kommandant schlüpfte in einen Parka und ein Paar Stiefel, dann führte er seine Besatzung durch den Hauptaufgang nach oben. Sie stießen die Lukenabdeckung auf und stiegen aufs Oberdeck, wo sie den Elementen schutzlos ausgesetzt waren. Es war, als träten sie durch die Pforten einer eisigen Hölle.
Aus dem dunklen, dumpfigen Inneren des Schiffes kamen sie in eine beißende, knochenweiße Welt. Ein heulender Wind deckte die Männer mit einem Hagel aus Eiskristallen ein und fegte mit vierzig Grad Kälte über sie hinweg. In dem schwindelerregend wirbelnden Weiß konnte man Himmel und Erde, Oben und Unten nicht mehr voneinander unterscheiden. Fitzjames stemmte sich gegen die wilden Böen und tastete sich über das verschneite Oberdeck und ein Fallreep hinab aufs Packeis.
Eine halbe Meile entfernt saß das Schwesterschiff der
Erebus
, die HMS
Terror
, im gleichen Eisfeld fest. Doch der erbarmungslose Wind schränkte die Sicht auf ein paar wenige Meter ein. Wenn sie die
Terror
in dieser weißen Hölle verpassten, würden sie ziellos auf dem Eis umherwandern und sterben. Deshalb waren im Abstand von hundert Schritten hölzerne Markierungspfosten zwischen den Schiffen aufgestellt worden, doch unter diesen Witterungsbedingungen bedeutete es schon eine mörderische Herausforderung, die nächste Markierung zu finden.
Fitzjames zückte seinen Kompass und nahm eine Peilung auf zwölf Grad vor, denn in dieser Richtung lag, wie er wusste, die
Terror
. Das Schwesterschiff befand sich eigentlich genau östlich von ihnen, aber die Nähe des magnetischen Nordpols führte zu einer Kompassdeviation. Im Stillen betete er darum, dass sich das Packeis seit den letzten Peilungen nicht verschoben hatte, beugte sich dann über den Kompass und trottete in die von der Nadel gewiesene Richtung. Ein Seil wurde von Mann zu Mann weitergereicht, worauf sich der Trupp wie ein riesiger Tausendfüßler über das Eis bewegte.
Der junge Kommandant schlurfte mit gesenktem Kopf dahin, ohne den Blick vom Kompass zu wenden, während ihm der eisige Wind und der wehende Schnee im Gesicht brannten. Er zählte hundert Schritte ab, blieb stehen und blickte sich um. Erleichtert atmete er auf, als er inmitten der wattigen Wirbel die erste Markierung entdeckte. Er begab sich zu dem Pfosten, nahm eine weitere Peilung vor und marschierte zur nächsten Markierung. So schleppten sich die Männer von einem Pfosten zum nächsten und kletterten über Schneehügel, die sich oftmals bis zu zehn, zwölf Meter auftürmten. Fitzjames konzentrierte sich mit aller Kraft auf seinen Weg und verdrängte die Enttäuschung darüber, dass er sein Schiff einer Horde Wahnsinniger überlassen musste. Er war sich dessen nur zu sehr bewusst, dass es eine Frage des Überlebens war. Und das war alles, worauf es nach drei Jahren in der Arktis noch ankam.
Ein tiefes Donnern erschütterte seine Hoffnung: ein ohrenbetäubendes Geräusch, trotz des heulenden Windes. Es klang wie der Schuss einer großen Kanone, aber der Kommandant wusste, worum es sich handelte. Es rührte von dem Eis unter seinen Füßen her, das in dicken Schichten übereinanderlag, die sich regelmäßig zusammenzogen und ausdehnten.
Seit die beiden Expeditionsschiffe im September 1846 im Eis stecken geblieben waren, hat sich die mächtige Decke des sogenannten Beaufort-Eisstroms über zwanzig Meilen vorangeschoben. Wegen des ungewöhnlich kalten Sommers waren sie das ganze Jahr 1847 hindurch im Eis gefangen gewesen, während das Frühlingstauwetter ungewöhnlich kurz angedauert hatte. Der Einbruch der nächsten Kälteperiode ließ Zweifel daran aufkommen, dass die Schiffe im darauffolgenden Sommer freikommen könnten. Unterdessen konnte jede weitere Eisdrift tödlich sein, da selbst ein robustes hölzernes Schiff wie eine Streichholzschachtel zerquetscht werden konnte. Siebenundsechzig Jahre später würde Ernest Shackleton ohnmächtig mit ansehen müssen,
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