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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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einfach sagen, obwohl er wusste, was das für Konsequenzen haben würde. Kramer blieb stehen und packte Pasulke an den Schultern. Der ließ es überrascht geschehen.
    »Jochen. Du bist Software. Ich bin Software. Michael Abusch war Software. Nicht sein so genannter Vater hat ihn getötet, sondern ich war es. Ich habe Michael Abusch ermordet, wenn Software Software ermorden kann. Was du hier siehst, alles um dich herum, ist nicht wirklich. Wir sind Teile eines gigantischen Computerspiels. Polyplay. Es heißt Polyplay. Du bist eine Figur darin, ich bin eine Figur darin. Wir sind Software.«
    Pasulke streifte Kramers Hände erschrocken ab. Er trat einen Schritt zurück. In seinen Augen stand ein Gemisch aus Angst, Abscheu und Mitleid.
    »Rüdiger«, sagte er, »was erzählst du denn da?«
    Kramer lachte. »Keine Sorge, Jochen, ich bin verrückt. Bekloppte dürfen so was.«
    Pasulke sah ihn zweifelnd an, aber weil er keine Anstalten machte, gewalttätig zu werden, folgte er Kramer, als der den Spaziergang fortsetzte. Auf dem Weg zurück zur Klinik sprachen sie kein Wort. Aber als sich Pasulke verabschiedete, umarmte er Kramer. Beim Lösen der Umarmung hatte er feuchte Augen.
    »Mensch, Rüdiger«, sagte er.
    »Operation Neescherfett«, antwortete Kramer. Pasulke lachte laut los.
    Eure Puppen sind so echt, dachte Kramer, als er wieder in seinem Zimmer war. Ihr macht mich noch wahnsinnig.
     
    Dumm war er gewesen! Strohdumm! Was für eine gigantische Dummheit, Pasulke mit der Wahrheit zu konfrontieren! Pasulke hatte natürlich nichts Besseres gewusst, als sofort mit Frau Dr. Lorenz zu telefonieren und ihr von dem Gespräch im Park zu erzählen. Daraufhin hatte Dr. Lorenz ihm seine Erlaubnis zum Verlassen des Zimmers entzogen.
    »Wir müssen sicher gehen«, hatte sie ihm in strengem Tonfall erklärt, »dass Sie eine akzeptable Verankerung in der Wirklichkeit erreicht haben. Es tut mir Leid, aber was ich von Herrn Pasulke zu hören bekommen habe, lässt mich an einen schweren Rückfall glauben. Ich habe unter diesen Umständen keine Wahl. Die Ausgangserlaubnis für den Park ist bis auf weiteres ausgesetzt.«
    Die resolute Frau Dr. Lorenz war gegangen. Diesmal keine schönen Beine – nur der sachliche, gestärkte Kittel der ärztlichen Stationsleitung. Er musste endlich die Regeln begreifen. Wenn er Fehler machte, wurde er zurückgestuft. Erst wenn er die Softwarepuppe »Dr. Lorenz« davon überzeugt hatte, dass er gesund war, konnte er die Klinik verlassen, und erst dann würde die Handlung wirklich weitergehen. Das war ein Spiel, keine Psychiatrie! Hier wurde er nicht »behandelt«, hier wurde er geprüft. Kramer wollte mitspielen, er musste es. Denn wenn er, als das Softwarekonstrukt, das er war, nirgendwo anders leben konnte als auf einem der Aktivitätsniveaus von Polyplay, dann wollte er zumindest im Rahmen des Spiels frei sein. Er wollte vor allem leben. Das Leben nach der Klinik würde schwer genug werden, ohne Arbeit, ohne Wohnung. Das Leben in einer DDR, die es in Wirklichkeit nicht mehr gab. Die es so nie gegeben hatte.
     
    Aber das war immer noch der wattierten Hölle vorzuziehen, in der er sich jetzt aufhielt. Alles, nur das nicht: eine weinende Anette, die ihm gegenüber in der Beobachtungskammer saß und so tat, als wisse sie von nichts. Sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren eleganten Händen, die Fingernägel waren frisch lackiert, dunkelrot.
    »Bitte«, schluchzte sie, »ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.« Sie nahm die Hände vom Gesicht. Ihre Augen waren völlig verweint. »Ich habe dich verlassen, ohne zu wissen, wie viel du mir bedeutest. Frank liebt mich nicht wirklich, das habe ich erst jetzt begriffen. Ich war so kalt und herzlos zu dir in dieser schrecklichen Pension.« Sie schluckte.
    Wie echt das alles aussah! Vor kurzem noch war sie ihm als die Göttin gegenübergetreten, herrisch und arrogant, und Kramer war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Auftritt ihrem wahren Gesicht am nächsten kam – dem wahren Gesicht einer Person, die Kramer nie wirklich kennen lernen würde, weil er ein Programm und sie ein echter Mensch war. Wenn auch ein bis über alle Maßen kranker und verrückter Mensch. Viele Gefühle machten sich den Platz in Kramers Seele streitig. Er spürte nicht nur Hass und Verachtung für den Schatten hinter »Anette« und »Athene«, sondern auch Mitleid. Wie krank musste man sein, um ein guter Polyplay-Spieler zu werden, einer der Götter? Blitzartig ging ihm auf, dass das

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