Quantum
Gogol-Piraterie?«
»O nein. Ich habe immer darauf geachtet, mich außer beim ZEIT -Erwerb in jeder Hinsicht ganz normal zu verhalten.
Eine Sicherheitsvorkehrung, könnte man sagen. Nein, was mir auf der Seele
liegt, ist das hier.«
Unruh reicht Isidore ein Blatt – feines Leinenpapier ohne Briefkopf
–, auf dem in eleganter, flüssiger Handschrift ein paar Worte stehen:
Lieber M. Unruh,
hiermit bedanke ich mich für Ihre nicht erfolgte Einladung – es ist mir ein
Vergnügen, am 28. Sol Vrishika 24** an Ihrer Carpe-Diem-Party teilzunehmen. Ich
bringe einen Gast mit.
Ihr ergebener Diener, Jean le Flambeur
Isidore denkt schon den ganzen Nachmittag an le Flambeur. Im
Exospeicher der Oubliette findet sich nicht viel über ihn. Schließlich hat er ZEIT für einen teuren Datenagenten ausgegeben, der sich
in das Realm jenseits der Noosphäre der Oubliette gewagt hat. Was er von dort
mitbrachte, war eine Mischung aus Fakten und Legenden. Keine echten Erinnerungen
oder Lifecasts, nicht einmal Video- oder Audioaufzeichnungen. Nur Fragmente aus
der Zeit vor dem Großen Zusammenbruch, Online-Spekulationen über einen
Meisterverbrecher, der in den Schnellen Städten London und Paris sein Unwesen
trieb. Fantasiegeschichten über den Diebstahl einer Sonnenlifterfabrik des
Sobornost, den Einbruch in ein Gubernja -Gehirn und
schmutzige Geschäfte mit virtuellen Immobilien im Realm.
Das kann sich unmöglich alles auf ein und dasselbe Individuum
beziehen. Vielleicht handelt es sich um eine Kopiefamilie. Oder um ein Mem,
eine Idee, mit der Verbrecher – was immer das Wort in verschiedenen Teilen des
Systems auch bedeuten mag – ihre Untaten signieren können. Dies kann in jedem
Fall nur ein schlechter Scherz sein. Isidore gibt den Brief zurück.
»Ihre Carpe-Diem-Party?«, fragt er. »Die findet schon in einer Woche
statt.«
Unruh lächelt. »Ja. Ein Jahrtausend ZEIT vergeht heutzutage schnell. Ich verschenke das meiste davon, und ein Teil wird
von meiner Partnerin verwaltet – Sie haben Odette ja bereits kennengelernt.
Meines Wissens gibt es in unserer Generation nicht viele, die nicht
mit der Ungerechtigkeit des Systems hadern – aber ich bin gewissermaßen
Idealist. Ich glaube an die Oubliette. Ich habe acht erfüllte Jahre in diesem
Körper verbracht; jetzt bin ich bereit, als Schweiger meinen Beitrag zu
leisten. Aber natürlich möchte ich mein Leben vor der nächsten Runde stilvoll
beschließen. Ich möchte eine Nacht lang den Tag nützen.« In seiner Stimme
schwingt eine unverständliche Bitterkeit mit.
Der Schweiger-Diener serviert den beiden Tee in feinen
Porzellantassen: Unruh trinkt mit Genuss. »Außerdem bekommt alles dadurch, dass
es endlich ist, besonders scharfe Konturen, finden Sie nicht? Ich glaube, das
war es, was unseren Gründervätern und -müttern vorschwebte. Und ich wollte
nicht mehr, als es zu erleben. Bis dieser Brief dazwischenkam.«
»Wie gelangte er hierher?«
»Ich fand ihn in meiner Bibliothek«, sagt Unruh. »In meiner
Bibliothek!« Die harten Zornesfalten passen nicht in das Kindergesicht. Er
setzt die Tasse so heftig ab, dass sie klirrt. »Ich lasse niemanden in meine Bibliothek, M. Beautrelet. Sie ist mein Allerheiligstes. Und
niemand außerhalb meines engsten Freundeskreises hat auch nur so viel Gevulot,
um in dieses Schloss zu kommen. Sie werden angesichts Ihrer jüngsten
Erfahrungen mit der Presse sicherlich verstehen, dass ich mich … vergewaltigt
fühle.«
Isidore schüttelt sich. Die Vorstellung, dass jemand unangemeldet,
ohne Zugang zu seinem Gevulot in seinen privaten Bereich eindringt, verursacht
ihm eine Gänsehaut. »Sie halten es nicht für denkbar, dass Ihnen jemand einen
Streich spielen will?«
Unruh presst die Handflächen gegeneinander. »Die Möglichkeit habe
ich natürlich in Erwägung gezogen«, sagt er. »Wie Sie sich vorstellen können,
habe ich den Exospeicher des Schlosses gründlich abgesucht, jedoch nichts
gefunden. Der Brief tauchte irgendwann gestern Abend zwischen sieben Uhr und
acht Uhr dreißig einfach auf. Die Handschrift ist mir unbekannt. Das Papier
stammt aus einem Laden an der Allee. Abgesehen von meinen eigenen gibt es keine
deutlichen DNA-Spuren. Weiter ist Odette noch nicht gekommen. Ich bin
überzeugt, dass Fremdwelttechnologie im Spiel ist. Der modus
operandi würde jedenfalls zu dem passen, was uns über diese Person
bekannt ist – dass sie nämlich anzukündigen pflegt, zu welchem Datum und um
welche Zeit sie ihr Verbrechen begehen
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