Unsterbliche Bande
1
Eigentlich hatte Lily Yu nicht vorgehabt, den Friedhof bei Sonnenuntergang zu besuchen. Es hatte sich einfach so ergeben.
Das Haupttor von Mount Hopes schloss um halb vier, aber die Eingangspforten für die Fußgänger blieben auch danach noch geöffnet. Weil die Leute gern noch nach der Arbeit vorbeikämen, hatte der Mann im Friedhofsbüro gesagt, vor allem am Geburtstag des Verstorbenen oder zu anderen wichtigen Ereignissen. Zu dieser Uhrzeit war kein freier Parkplatz mehr zu finden, es sei denn, man erwischte noch einen am Straßenrand.
Dort hielt Lily nun mit ihrem Dienstwagen, einem Ford, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der weiße Toyota, der ihr gefolgt war, kam näher und fuhr dann vorbei. Sie würde warten. Wenn sie ausstieg, bevor sie geparkt hatten, versetzte sie sie nur unnötig in Aufregung. Es war schon schlimm genug, dass sie sie hierhergeschleppt hatte, da das Licht bereits nachzulassen begann.
Nicht, dass sie sich vor dem Sonnenuntergang gefürchtet hätten. Ebenso wenig wie sie. Vor den Toten brauchte man keine Angst zu haben. Es waren die Lebenden, vor denen man auf der Hut sein musste.
Während der Toyota nach einem Parkplatz suchte, nahm Lily ihre Stiftlampe aus der Handtasche und steckte sie sich in die Hosentasche. Der Tag glitt langsam in die Dämmerung hinüber, und sie misstraute dem Zwielicht. Bei Tageslicht weiß man immer, wo man ist, und sieht, wohin man geht. Doch bei Nacht kann man nichts sehen, zumindest nicht ohne Hilfsmittel – elektrische Hilfsmittel vor allem, die Lichter der Stadt, eine Taschenlampe, was auch immer. Und da man das weiß, trifft man entsprechende Vorkehrungen.
Zwielicht lässt die Grenzen verschwimmen. In der Stunde der Schatten täuscht man sich leicht in dem, was man zu sehen glaubt, macht schnell einen falschen Schritt, weil man gedacht hatte, das Licht reiche noch aus. Als sie noch bei der Mordkommission war, hatte Lily Menschen verhaftet, die genau diesen verhängnisvollen Schritt zu viel gemacht hatten, irregeleitet durch ihr eigenes Zwielicht von Drogen oder Gefühlen. Menschen, die sonst nie zu Mördern geworden wären.
Aber manche machen diesen Schritt auch absichtlich. Manche wissen sehr wohl, wo die Grenze verläuft, und übertreten sie ganz bewusst. Wie der Mistkerl, bei dessen Anhörung sie heute als Zeugin ausgesagt hatte.
Gottverdammte Trittbrettfahrer.
Ein Stück weiter die Straße hinunter setzte der Toyota in eine Lücke zwischen einem Geländewagen und einem Pick-up zurück. Lily nahm ihre Handtasche, vergewisserte sich, dass kein Auto kam, und stieg aus. Der Verkehr war nicht sehr dicht, sodass sie sofort die Straße überqueren konnte. Bis sie auf der Straßenseite angekommen war, an der der Friedhof lag, waren dem Toyota zwei Männer entstiegen.
Einer war schlank und blass, hatte ein rundes Gesicht und trug eine Brille. Er hätte fast ein Computernerd sein können. Der andere war einen Kopf größer, vierzig Kilo schwerer und sah aus, als hätte er ein paar Tattoos und ein Vorstrafenregister. Der Nerd trug ein billiges Sporthemd, der Abgebrühte ein schwarzes T-Shirt. Beide hatten Jeans, Laufschuhe und ein Sakko an.
Auch Lily hatte sich für eine Jacke entschieden, aus demselben Grund. Es war zwar Ende Dezember, aber dies war San Diego. Die Luft war zwar frisch, aber nicht kalt. Doch die Leute regten sich leicht auf, wenn man sein Schulterholster allzu offen zeigte.
Die Männer überquerten die Straße zwischen einem schwarzen Sedan und einem Lieferwagen. Der Nerd gab plötzlich ein Zeichen mit der Hand, woraufhin der Abgebrühte – auch bekannt als Mike – mit lockerem, schnellem Schritt auf die Pforte zustrebte. Als Lily ihm nachging, folgte der Nerd ihr.
Sie wurden nicht beschattet, doch es war möglich, dass ihre Feinde wussten, dass sie kommen wollte und sie bereits erwartet wurde. Unwahrscheinlich, aber möglich. Theoretisch hätte Friar erfahren haben können, dass sie sich vor einem Monat den Friedhofsplan geholt hatte, und seitdem den Friedhof überwachen lassen.
Das hatte zumindest Scott gesagt, als sie ihm von ihrem geplanten Besuch erzählt hatte. In Lilys Augen war es die wohl sicherste Sache, die sie in letzter Zeit durchgeführt hatte. Friars Organisation hatte im Oktober einen schweren Schlag erlitten, als er es geschaffte hatte, viele Menschen in den Tod zu schicken, aber dann erleben musste, wie seine lang gehegten Pläne zunichtegemacht worden waren. Sie bezweifelte, dass er noch die Mittel
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