Quo Vadis
gesteckt. Dadurch wurde es heller. Bald darauf begann die Menge eine unbekannte Hymne erst leise, dann immer lauter zu singen. Vinicius hatte niemals einen solchen Gesang gehört. Es lag darin der Ausdruck des Verlangens, nur mit ungleich größerer Bestimmtheit und Kraft, der ihn schon bei dem Singen jener vereinzelten Personen auf dem Wege zum Begräbnisplatze betroffen gemacht hatte. Der Gesang wurde so tief ergreifend und großartig, als ob mit dem Volke der ganze Friedhof, die Hügel und Gruben, selbst die Luft von gleichem Sehnen erfaßt wären. Ihm schien es wie ein Rufen in der Nacht, ein demütiges Gebet um Rettung in der Wanderschaft und Dunkelheit.
Es war, als ob emporgewandte Augen in weiter Ferne jemand sähen, ausgebreitete Arme ihn anflehten herabzusteigen. Nachdem die Hymne zu Ende gesungen war, trat ein Augenblick des Schweigens ein; der Eindruck war so mächtig, daß Vinicius und seine Begleiter unwillkürlich zu den Sternen emporblickten, wie in Furcht, es könne sich etwas Ungewöhnliches ereignen, wirklich ein Wesen von dort herabsteigen.
Vinicius hatte eine Menge Tempel der verschiedensten Art in Kleinasien, Ägypten und Rom gesehen, war mit einer großen Anzahl Religionen sehr verschiedenen Charakters bekannt geworden und hatte viele Hymnen gehört; aber hier sah er zum erstenmal eine Versammlung, die in Liedern zu einer Gottheit rief, sich an keinen bestimmten Ritus hielt, sondern aus der Tiefe des Herzens flehte mit dem natürlichen Verlangen der Kinder ihren Eltern gegenüber. Man hätte blind sein müssen, um nicht zu erkennen, daß diese Leute ihren Gott nicht nur ehrten, sondern auch liebten. Vinicius, so weit er in der Welt herumgekommen war, hatte nirgends Ähnliches geschaut, bei keiner Feierlichkeit, in keinem Heiligtum; denn wer in Rom oder Griechenland noch die Götter ehrte, tat es, um Hilfe für sich zu erlangen oder aus Furcht. Niemals aber war es einem eingefallen, diese Gottheit zu lieben.
Obwohl sein Geist mit Lygia beschäftigt und sein Auge auf die Menge gerichtet war, um sie zu suchen, konnte er sich doch nicht enthalten, all das Ungewöhnliche, Seltsame, das sich um ihn her zutrug, zu beachten. Inzwischen wurden noch mehr Fackeln zu einem Feuer zusammengeworfen, das danach, den Schimmer der Laternen verdunkelnd, die Begräbnisstätte mit rötlichem Licht erfüllte. Nun trat ein Greis, in einen Mantel mit Kapuze gehüllt, barhaupt aus dem Hypogäum und bestieg einen Stein beim Feuer.
Die Versammelten neigten sich vor ihm. Stimmen in der Nähe des Vinicius flüsterten: „Petrus! Petrus!“ Einige knieten, andere streckten die Arme nach ihm aus. Es trat so tiefe Stille ein, daß man jedes verkohlte Teilchen der Fackeln fallen hörte, das ferne Wagengerassel auf der Via Nomentana und das Geräusch des Windes in den wenigen Pinien, die nahe beisammen auf dem Friedhof wuchsen.
Chilon beugte sich zu Vinicius und flüsterte:
„Das ist er! Der vornehmste Jünger Christi. Ein Fischer.“
Der Greis erhob die Hand und segnete durch das Zeichen des Kreuzes die Versammelten, die auf die Knie fielen. Vinicius und sein Gefolge, die sich nicht verraten wollten, taten das gleiche. Der junge Mann konnte über den gewonnenen Eindruck nicht ins klare kommen; die Gestalt, die er vor sich erblickte, schien ihm einfältig und außergewöhnlich zugleich, und dazu war dieses Außergewöhnliche ein Ausfluß gerade dieser Einfalt. Der Greis trug keine Mitra auf dem Haupte, kein Gewinde von Eichenblättern um die Schläfen, keine Palme in der Hand, keinen goldenen Schild auf der Brust, kein mit Sternen besticktes weißes Gewand, keine Insignien wie andere Priester im Orient, in Ägypten oder Griechenland oder auch wie die altrömischen.
Und Vinicius war über diesen Unterschied ebenso betroffen wie über den, der ihm beim Anhören der christlichen Hymnen aufgefallen war. Dieser Fischer erschien ihm nicht wie ein im Vollziehen seiner Zeremonien geübter Erzpriester, sondern als ein schlichter, bejahrter, unendlich verehrungswürdiger Zeuge, der aus weiter Ferne gekommen war, um eine Wahrheit zu bringen, die er gesehen oder gefühlt hatte, an die er glaubte wie an sein eigenes Dasein und die er liebte, eben weil er sie glaubte. Daher lag in seinen Zügen eine Kraft der Überzeugung, wie nur die Wahrheit selbst sie besitzt. Und Vinicius, bisher ein Skeptiker und darum nicht gewillt, dem Zauber des Greises nachzugeben, gab doch nach, eine fieberhafte Neugier erfaßte ihn über das, was von den
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