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Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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»Weine nicht, meine Freund!« Großartig! Nicht trotz, sondern gerade
wegen
dieser kleinen grammatikalischen Unwucht!
    Und dann durfte ich mal feststellen, dass Einheimische bei uns gern bei der Integration ausländischer Mitbürger helfen - zur Not gegen den Willen des zu Integrierenden.
    Da saß ich einmal in der S-Bahn zwischen Bochum und Essen. Auf der anderen Seite des Ganges ein junger Südländer, der in einer Zeitung seiner Muttersprache las. Ihm gegenüber ein älterer Deutscher ohne Angst vor Klischees, also mit weißen Socken in offenen Sandalen und einer karierten Schiebermütze auf dem Kopf. Der versuchte zunächst nonverbal mit dem jungen Südländer Kontakt aufzunehmen und sprach ihn, als das nichts fruchtete, dann doch an. Aus der Antwort ging klar hervor, dass der Angesprochene kein Deutsch sprach. Nun hält sich gerade bei älteren Menschen hartnäckig ein alter Irrglaube: Wenn einer kein Deutsch kann, dann muss man nur
lauter
sprechen! Dann gibt das gegnerische Gehirn irgendwann auf und fängt an zu verstehen. Also brüllte der ältere Herr durch den ganzen Waggon: »Wissen Sie, Deutsch ist eine sehr schwere Sprache!« Der ganze Wagen war voller Leute, die das sofort unterschrieben hätten. Und die meisten waren hier geboren. »Schwer, aber schön!«, fuhr der selbsternannte Ausländerbeauftragte fort. Der junge Mann gegenüber versteckte sich krampfhaft hinter seiner Zeitung. »Und jetzt gebe ich Ihnen mal einen Rat!« Den der andere sehr deutlich nicht haben wollte. »Wenn Sie richtig Deutsch lernen wollen, dann müssen Sie einem Verein beitreten! Am besten einem Kegelverein! Da kriegen Sie auch gleich neue Schuhe! Und da nennt man Sie Bruder! Da sind Sie nämlich ein Kegelbruder!«
    In diesem Moment kamen wir in Essen-Eiberg an. (Für alle Auswärtigen: Der Stadtteil heißt wirklich so!) Der junge Südländer sprang auf und verließ fluchtartig die Bahn. Nun, zumindest glaubte ich erst, er sei auf der Flucht vor dem weisen alten Mann. Dann aber dachte ich: Nein, wahrscheinlich sucht er draußen nur sofort nach der ersten Kneipe mit Bundeskegelbahn, stolpert in den Keller, klopft an eine Tür, zwölf Kerle mit Pinnchen voller Appelkorn in der Hand öffnen ihm und rufen gleich voller Freude: »BRUDER!« Ein schönes Bild.
    Fast war ich versucht, dem Flüchtenden hinterherzurufen: »Wir sind nicht alle so!« Beziehungsweise: »Weine nicht, meine Freund!«
     

Kinderstube

Alte Leute
    In meiner Kindheit war ich umgeben von alten Leuten. Jedenfalls hatte ich damals den Eindruck. Alte Männer in Unterhemden und alte Frauen in Haushaltskitteln. Na gut, vielleicht waren sie gar nicht so alt, schließlich war ich selbst ziemlich jung, außerdem sehen Menschen, die richtig hart arbeiten, immer irgendwie alt aus, man denke nur an die Fotos von all den Fußballern aus den Dreißigern, die mit Ende zwanzig aussahen wie andere mit Mitte fünfzig, weil sie neben dem Kicken eben noch eingefahren sind.
    Vor allem auf der Poststraße bei Omma und Oppa väterlicherseits waren die von mir als alt gefühlten Leute unterwegs. Die Frauen hatten ihre kompakten Körper in knapp sitzende, geblümte Haushaltspellen gequetscht, bei denen man immer dachte: Irgendwo in Deutschland fehlt jetzt wieder ein Duschvorhang. Auch wenn die wenigsten eine Dusche zu Hause hatten. Einmal die Woche durften Frauen und Kinder baden, die Kerle kamen ja immer schön sauber vom Pütt, duschten jeden Tag in der Kaue.
    Die Haushaltskittel hatten keine Ärmel, und drunter trug die gute Ruhrfrau nichts, damit man die Oberarme schön blumenkohlig-weiß aus dem Kittel herauswachsen sehen konnte, breit und unförmig, mit einer über die Jahre gedehnten Impfnarbe.
    Wenn sie nicht im Haushaltskittel daherkamen, trugen diese Frauen Tantenpullover. Unifarbene Strickpullis mit V-Ausschnitt, die sich über einem unglaublichen Atomvorbau spannten. So was wird ja heute gar nicht mehr gebaut. Die Mieder, die das stützen mussten, waren Meisterleistungen der Ingenieursplanung, höchstens noch vergleichbar mit Bauwerken wie der Fehmarn-Sund-Brücke. Diese Pullis saßen so eng, das war praktisch gehäkeltes Neopren. Man fragte sich spontan: Wie kommt die Tante da überhaupt rein? Vermutlich wie der Christbaum ins Netz kommt: Im Altersheim stand auf dem Gang eine durchgeschnittene Tonne, da kam vorne der Pullover drauf, und hinten schoben zwei Zivis.
    Die alten Männer hörte man oft schon, bevor man sie sah. Ihnen ging ein abgehacktes Donnern voraus, und da

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