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Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Badezimmer, als wildes Geschrei mich ans Fenster lockte. Auf dem Parkplatz nebenan sah ich einen Mann in einem zerknitterten Anzug Richtung Straße laufen, verfolgt von einem braungebrannten Typen mit strähnigen, blondierten Haaren, engen Jeans und freiem Oberkörper - obwohl es regnete. Der Braungebrannte erwischte den anderen kurz vor der Straße und vermöbelte ihn nach allen Regeln der Kunst. Ich fand, das sah aus wie im Fernsehen. Der Braungebrannte ging zurück, woher er gekommen war, die Arme ein wenig vom Körper abgespreizt, der andere rappelte sich auf und schrie: »Ihr verdammten Zuhälter!«, was den Halbnackten aber nicht zu interessieren schien.
    Bisweilen wurde ich auf der Straße nach dem Weg gefragt. Da hielt dann ein Auto am Bordstein, der Fahrer kurbelte das Fenster runter und sagte: »Ey, kannze mir sagen, wie ich auffen Eierberch komme?« Ich muss also bereits mit acht Jahren diese animalische Sexualität ausgestrahlt haben, die ich mir heute selber nachsage.
    Waren die Leute freundlich, antwortete ich, sie möchten doch bitte hier auf den großen Parkplatz einbiegen, bis nach hinten durchfahren, den Wagen abstellen und durch die Tür im Zaun gehen. War das Wetter schön, wünschte ich auch noch »viel Spaß«. Waren die Leute nicht so nett, riet ich ihnen, noch hundert Meter weiter zu fahren, an der Ampel nach rechts in die Gussstahlstraße einzubiegen und dann dem Straßenverlauf wiederum nach rechts zu folgen. Da galt nämlich abends »Einfahrt verboten« und die Polizei stand nicht selten da und hat abkassiert.
    Nicht so lustig war es, als ein Nachbarsjunge und ich einmal an einem sonnigen Nachmittag von fünf Männern angesprochen wurden, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Sie zeigten uns ein Blatt Papier mit einem Loch in der Mitte, durch das sie immer wieder mit einem Kugelschreiber hindurchstießen. Dazu sagten sie die beiden einzigen deutschen Wörter, die sie kannten, nämlich »Scheide« und »Haus«. Das war uns dann doch ein bisschen unheimlich, und da wir mit unseren sieben oder acht Jahren nicht wussten, was wir darauf sagen sollten, gingen wir einfach weiter. Worauf die fünf Männer hinter uns herkamen und erst abdrehten, als wir in unseren Hausflur stolperten.
    In nicht weniger als drei Wohnungen habe ich im Haus Nummer 36 an der Alleestraße gewohnt. Das Haus gehörte den Eltern einer Jugendfreundin meiner Mutter. Der Vater war Zahnarzt der alten Schule. Er trug einen fast bis auf die Knöchel reichenden Kittel mit einem Gürtel über dem Bauch und hatte weiße, streng zurückgekämmte Haare. Es gab eine Verbindungstür zwischen der Praxis und der Wohnung, was ich außerordentlich spannend fand. Die Frau des Zahnarztes kleidete sich fein und trug Broschen an der Bluse. Im Esszimmer standen Bücher wie »Dicke Lilli, gutes Kind« und »Der geschenkte Gaul« in einem weißen Bücherschrank. Neben der Tür fand sich ein Servierwagen mit einer großen Packung Lefax. Auf einer Anrichte stand eine kleine Etagere, die immer mit Gebäck bestückt war, vor allem mit Vanille-Kipferln. Schon komisch, an was man sich alles erinnert. Ich nannte die beiden Omma und Oppa, weil ich bei ihnen fast so viel Zeit verbrachte wie bei meinen richtigen Großeltern.
    In diesem Haus bewohnten meine Eltern zunächst eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Kohleofen und fensterlosem Bad. Mein Kinderbett stand im Schlafzimmer, womit auch geklärt wäre, wieso ich ein Einzelkind geblieben bin.
    Irgendwann wurde die Wohnung nebenan frei, und ich bekam ein eigenes Zimmer, eingerichtet im modischen Chic der Siebziger, mit einem schreiend gelben Plastikschreibtisch und einem Jugendbett mit braun-orangefarbenem Muster. Unter der Decke verkleidete Leuchtstoffröhren wie in einem Büro.
    Im Wohnzimmer hatten sich meine Eltern für eine schwarz-weiße Tapete entschieden, von deren psychedelischem Muster man besoffen wurde, wenn man lange genug draufstarrte und den Oberkörper rhythmisch vor und zurück bewegte.
    Als ich achtzehn wurde, bezog ich ein winziges Appartement unter dem Dach. Inklusive Kochgelegenheit und Bad kaum zwanzig Quadratmeter, aber es hatte einen eigenen Eingang und eine eigene Klingel: Freiheit, die ich meine.
    Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass ich diese Freiheit nicht zu dem einen oder anderen alkoholischen Exzess genutzt hätte. Dummerweise hat man im besoffenen Kopf ja immer so einen unsinnigen Hunger, weshalb ich mir eines Nachts in einem Anfall von Großmannssucht ein

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